Sensibel und
Furchterregend zum Zerbersten
Zu einem Buch
von Bettina Marx - "Gaza - Aus einem Land ohne Hoffnung" das
alle unsere deutschen Gemein-Vorstellung von
Israel-Palästina vom Kopf auf die Füße der Tatsachen stellt
Von Rupert
Neudeck
19.04.09
Das ist ein
gewaltiges Buch, das nur beschreibt, das aus der Fülle eines
engagierten Reporterlebens nur erzählt, was den Personen
geschehen ist, die sie im Gaza Streifen erlebt hat. Sie hat
einen Partner, den auch viele andere Journalisten hatten,
den Taxifahrer Raed. Als die israelische Armee im November
2007 einmarschiert und Beit Hanoun fast dem Erdboden
gleichmacht, ist auch Raed am Ende. Er sagt der Autorin:
„Das, was ich gesehen habe, hat mich wirklich verändert.
Vorher war ich dagegen, dass Zivilisten getötet werden.
Egal, ob Juden oder Muslime, ich war dagegen“. Inzwischen
sähe er das anders: „Wenn ich sehe, dass ein vierjähriges
Kind getötet wird, dass Frauen getötet werden, dann hasse
ich sie und dann wünsche ich mir, dass auch Zivilisten
leiden.“ Voller Entsetzen fügt er der Reporterin der ARD
hinzu: „Mein zehnjähriger Sohn will ein Shahid werden, ein
Märtyrer.“ Die beiden Söhne akzeptieren seine Autorität
nicht mehr. Sie wollen auch keine harmlosen Spiele mehr, für
sie gelte nur noch die Gewalt. In ihren Spielen ahmen sie
die Selbstmordattentäter nach.
Wenn die
israelische Armee kommt, nimmt sie die Männer alle fest,
verhört sie unter Benutzung all dessen, was an Folter
heranreicht. Und sie bieten dann immer an: Ihr könnt für uns
arbeiten und gutes Geld verdienen, das heißt auf Deutsch:
Kollaborateure sein.
Abu Usama wurde
verhört, er wurde gefragt, wer die Kassam Raketen und von wo
schießt. Und er wurde aufgefordert, für Israel als Agent
oder Spitzel zu arbeiten. „Sie haben gesagt, denkt darüber
nach, mit uns zu arbeiten. Eure Situation ist sehr schlecht
in Gaza, aber wir können Euch Geld anbieten.“
Diese Hamas
Leute sind völlig verantwortungslos auch gegenüber der
eigenen Bevölkerung. Die Zivilisten haben denen, die da mit
mobilen Rampen immer wieder kamen, gesagt: Sie sollten das
sein lassen.
Die Autorin
beschreibt die Reaktionen auf die Entführung des jungen
Soldaten Gilad Shalit. Der Vater von G. Shalit ist ein
vernünftiger Mensch, der gesehen hat, dass es keinen Sinn
macht, den ganzen Gaza Streifen in Schutt und Asche zu
legen: „Der Staat Israel kann nicht seine ganze
Abschreckungsmacht auf dem Rücken des Bürgers und Soldaten
Gilad Shalit aufbauen, denn sein Rücken ist nicht so breit.“
Liest man sich
in diesem immer gut geordneten, aber wahnsinnig
materialreichen Buch fest, erkennt man die Vorzüge dieser
Autorin gegenüber den bisherigen, die man zu diesem Konflikt
gelesen hat. Sie ist Judaistin, sie kennt sich aus in allen
Fragen der Geschichte des jüdischen Volkes und der jüdischen
Kultur. Weshalb sie dann auch heftiger und ungeschminkter
urteilen kann denn andere. Sie ist nie zögerlich und
ängstlich, sie hält keine langen salvatorischen Vorreden,
sie beschreibt die Skandale, wie sie sind und wo sie sind.
Ob das auf palästinensischer Seite die gräßliche und
unverstehbare Korruption und Reichtumsgier der Tunis
Mannschaft von Jassir Arafat ist oder die verfehlte
Israelische Politik, die seit Ben Gurion bis heute niemals
auch nur versucht hat, die Gesellschaft der Palästinenser
als das zu akzeptieren, als was Martin Buber immer gefordert
hat, sie zu behandeln: Als die Nachbarn auf Ewigkeit oder,
wem das theologisch zu weit geht, in der
Menschheitsgeschichte.
Sie zitiert die
jüdisch-israelischen Zeugen, die einfach die Vergleiche
anstellen mit den Schrecken der Nazi Vergangenheit. Die
völlig unzulässige Zerstörung von Wohnhäusern z.B., gegen
die es in Israel eine vorzüglich kleine Organisation unter
Leitung von Jeff Halper gibt, dem am 9. Mai der Immanuel
Kant Preis in Freiburg zuerkannt wird. Diese „demolition of
houses“ wurde in den Jahren unter Sharon unentwegt
betrieben: Sogar das Oberste Gericht in Israel untersagte in
einer einstweiligen Verfügung den Abriss der Häuser. Die
Entscheidung wurde am nächsten Tag aufgehoben und die Häuser
von Bulldozern zerstört: Der Chef der liberalen Shinui
Partei wird zitiert, der sagte, als er im Fernsehen Bilder
einer alten Palästinenserin sah, die in den Trümmern ihre
Hauses nach ihren Medikamenten suchte, diese Bilder
erinnerten ihn an seine eigene Großmutter, die in Auschwitz
ums Leben gekommen sei.
B. Marx
beschreibt sehr gut, wie es jemanden gehen kann, der sich
freiwillig aufmacht, um ein wenig hilfreich zu sein wie die
berühmt gewordene Amerikanerin Rachel Corrie. Die kam nach
Gaza im Auftrag einer 2001 gegründeten jungen
US-Solidaritätsmission: International Solidarity Movement.
Im Januar 2003 kam sie nach Israel wollte leidenden
Palästinensern helfen. Bettina Marx zitiert aus dem email
Wechsel mit der Mutter. „Nichts hätte mich auf die Realität
hier vorbereiten können, weder Bücher noch Konferenzen noch
Dokumentarfilme. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man
es nicht selbst gesehen hat“. Das ist es, was wir ja auch
unseren Bundestagabgeordneten empfehlen sollten, auch wenn
sie immer noch nicht sich trauen, diesem Rat zu folgen.
Diesen Konflikt kann man eigentlich gar nicht einschätzen,
wenn man die Realität vor Ort nicht selbst gesehen hat.
Rachel Corrie, dessen Bild ich noch auf dem Schreibtisch des
dann gestorbenen Palästinenserchefs Arafat gesehen habe,
wollte eigentlich Gandhi folgen in Palästina. Ihrer Mutter
schrieb sie: 60.000 Arbeiter aus Rafah haben vor zwei Jahren
in Israel gearbeitet. Jetzt können nur 600 nach Israel
gehen. Viele von ihnen sind hier weggezogen wegen der drei
Checkpoints zwischen Rafah und Ashkelon, der nächstgelegenen
Israel Stadt. Und dann schreibt sie ihrer Mutter, die ihr
gesagt hat, die Gewalt der Palästinenser sei auch nicht
hilfreich: „Wenn einer von uns zusehen müsste, wie man sein
Leben und seinen Wohlstand zerstört, wenn wir mit unseren
Kindern auf einem immer kleiner werden den Raum leben
müssten und wüssten, dass jeden Moment Soldaten mit Panzern
und Bulldozern kommen und unsere Gewächshäuser zerstören
können, wenn sie uns schlagen und mit 150 Leuten für mehrere
Stunden einpferchen würden, glaubst Du nicht, dass wir dann
zu gewalttätigen Mitteln greifen würden, um das zu schützen,
was noch übrig ist?“.
Sie begann
arabisch zu lernen. Am 16. März 2003 wollte sie zwei
Bulldozer aufhalten, die in Rafah Häuser zerstörten. Als
einer der Bulldozer auf das Haus eines Apothekers zufuhr,
kniete sich Corrie - mit ihrer leuchtend orangefarbenen
Jacke weithin sichtbar - vor ihn auf den Boden, der
Bulldozer hörte nicht auf weiterzufahren. Sie stieg auf den
Erdwall, der begann zu wanken, sie rutschte herunter, doch
der Bulldozer hielt nicht an. Sie starb gleich danach an
Schädel- und Wirbelsäule-brüchen.
Man kann das
Buch nur so beschreiben: Es ist eine Orgie von
hintereinander gesetzten ausführlichen Reportagen. Die
Autorin muss nicht urteilen, sie muss so gut wie nie
kommentieren: Alles ergibt sich für den Leser aus dem, was
sie an Realität bei den Besuchen von Palästinenserfamilien (z.B.
im Gaza) in Mawassi, einem Ort, der nach Ausbruch der
zweiten Intifada fast ganz abgeschlossen war.
Sie beschreibt
alles von den Bedürfnissen der Menschen her. Dieses Gebiet
im südlichen Gaza-Streifen war berühmt für seine Guaven.
1999 wurden von dort noch 1350 Tonnen nach Jordanien, 525
Tonnen auf die Westbank und 235 Tonnen nach Israel
gewinnbringend exportiert. 2002 waren es nur noch 8 (!)
Tonnen, die ins Westjordanland gingen, während der Handel in
andere Gebiete zu Ende war. 2005 sank die
landwirtschaftliche Produktion in Mawassi um 90 Prozent.
Kann man sich
vorstellen, wie das Leben aussieht für uns, wenn uns die
Produktion nicht mehr wächst, sondern um 90 Prozent geraubt
wurde?
Das Stigma
dieser Politik ist: Demütigung. Die Autorin spricht das Wort
kaum aus, alles, was der Leser erfährt, ist für ihn
daraufhin durchsichtig. Sie beschreibt den berüchtigten
Checkpoint Tuffach: Da die Palästinenser nicht mehr den
Kontrollpunkt mit Autos oder LKWs passieren durften, mussten
sie die Waren auf der einen Seite der Sperre ablegen, zu Fuß
in ihrem eigenen Land über die Linie tragen und auf der
anderen Seite auf andere Fahrzeuge aufladen. Sie sagt nicht
das entscheidende Wort, das der Leser aber schon im Kopf
hat: Demütigung, „humiliation“. Sie sagt: Das Verfahren war
für empfindliche Güter wie Gemüse, Obst, Fische belastend.
„Und es erhöhte die Transportkosten und schmälerte damit den
Profit“. Am Checkpoint Tuffach wurden Schwangere gezwungen
zu gebären, der Gipfel der Demütigungsmaschinerie.
Das ist der
Unterschied zu dem Weltblatt in Hamburg, die fragen
jemanden, der überhaupt nicht mit diesen Menschen Kontakt
haben kann und darf, einen Philosophie-Professor (Moshe
Halberthal), der sich nicht schämt, Berater in Sachen Ethik
(!) für die Israelische Armee zu sein. Der Professor darf
nicht wie Bettina Marx dorthin. Das ist Israelis verboten.
Auf die Frage, ob es stimmt, dass ein Militärrabbiner in
einem Flugblatt die Soldaten aufgefordert habe, keine Gnade
mit dem Feind zu haben, muss er das zugeben und sagt: Die
Religion spiele ein destruktive Rolle. Aber das alles
geschieht. Wir sollen nur in Deutschland das immer gefiltert
erfahren, indem ein Philosophie-Ethik-Professor uns sagt:
Ach wissen Sie, das ist alles passiert, aber wir bemühen uns
um eine Ethikberatung. Und so etwas haben die dreckigen
Palästinenser ja nicht: Ethikberatung!
Bettina Marx
berichtet von den Übergriffen jüdischer Siedler, etwas, das
kaum jemand in Deutschland wissen darf, denn es macht das
prästabilisierte Bild der Opfers und der
Aggressoren/Terroristen kaputt. Der elfjährige Yussef in
Mawassi will einfach mal zum Meer gehen: „Die Juden erlauben
es nicht. Sie schicken uns zurück und werfen Steine nach
uns. Sie sagen: verschwindet von hier. Das ist unser Meer“.
Im Oslo II Abkommen war den Palästinensern ein fünf
Kilometer langer Strand für Sport und Freizeit am Gaza
Strand zugestanden worden, doch auch das wurde immer
stärker eingeschränkt. Aus Furcht vor den Übergriffen der
Siedler zogen es die Siedler vor, dorthin nicht zu geben.
Die sog. ägyptischen Offiziershäuschen wurden von den
Siedlern zu Ställen umfunktioniert. Vor dem Rückzug der
Israelis wurden sie von den israelischen Behörden
abgerissen, angeblich um zu verhindern, dass sie
Palästinenser sich darin verbarrikadieren.
Bettina Marx
spricht den Rabbi Yosef Elnekaveh, sie kann hebräisch,
braucht keinen Übersetzer. Der Rabbi weiß ganz genau:
„Abraham hatte zwei Söhne, Isaak und Ismael. Isaak hat er
das Land gegeben und Ismael hat er es nicht gegebnen. Er hat
ihn gesegnet und dieser Segen ist eingetreten. Die Araber
haben Gold, sie haben Erdöl, das sind die Segen unseres
Erzvaters Abraham. Aber das Land Israel hat er ihnen nicht
gegeben. Wollen Sie, dass wir ihnen das Erdöl nehmen? Der
Heilige, gelobt sei er, hat sie mit Erdöl gesegnet und uns
hat er das Land Israel gegeben!“
Das Buch muss
man an einem Wochenende anfangen zu lesen, weil man nicht
stoppen kann, die 400 Seiten hintereinander zu verschlingen.
Wie gesagt: Das ist die große Leistung einer unbeirrbar
tüchtigen Reporterin, die alles besucht hat, alle gesprochen
hat und das alles immer nur aufschreibt. Sie hat bis zum
Schluß diesen Stil beibehalten. Das Buch ist eine einzige
Anklage, obwohl sie kein Wort der Anklage verwendet.
Bettina Marx:
Gaza - Tausendundeins Verlag 2009
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