Was dir
verhasst ist, das tu Deinem Nächsten nicht an!
Zu einem brandaktuell
politischen Buch mit dringenden Anfragen an die deutsche
Gesellschaft, die deutschen Kirchen und die deutsche Politik
Von Rupert
Neudeck - 31.03.08
Ein Buch wie eine
Konterbande. Reiner Explosivstoff, aber ein Zündstoff der
Menschlichkeit. Der Autor legt in einem ersten Teil die
Wurzeln seiner jüdischen Identität frei, die zugleich die
Tradition seines Glaubens sind. Die Grundsätze, nach denen
„Juden, so gut es ging, seit Hillel und Rabbi Akiwa,
jahrtausendelang gelebt und gehandelt“ hatten. Er erzählt es
geradezu verschmitzt und voller Humor, wenn man den Autor
als Redner erlebt hat. Der Führer des Judentums während der
Zeit des zweiten Tempels, also 70 v.Chr. war Hillel. Zu
diesem Hillel kam eines Tages ein Nichtjude, wahrscheinlich
ein Römer. Er hatte eine Bedingung gestellt für den
angekündigten Übertritt zum Judentum: „dass Sie mir die
ganze Tora beibringen, in der Zeit, in der ich auf einem
Bein stehen kann“. Die Frage also nach dem Wesentlichen, wie
sie in den drei großen Weltreligionen gestellt wird. Hillel
ging auf den Mann zu, ließ ihn sich auf ein Bein stellen und
sagte zu ihm: „Was Dir verhasst ist, tu Deinem Nächsten
nicht an!“ Und er sagte noch dazu: Das sei die ganze Tora,
der Rest sei „Erläuterung“.
Das ist das christliche
Grundgebot: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!“, neben
dem auch nichts als Erläuterungen Platz haben. Diese
Antwort, so Verleger, sei auch eine auf die Frage, ob sich
der Auftrag zur Nächstenliebe auch auf Nichtjuden bezieht.
Der Mann, zu dem Hillel gesprochen hatte, war vermutlich ein
römischer Besatzungssoldat. „Er könnte auch ein israelischer
Bulldozerfahrer sein, der ein palästinensisches Haus
niederwalzt. Oder ein deswegen steinewerfender
palästinensischer Jugendlicher. Oder ein verhetzter und
überforderter israelischer Soldat, der auf diesen
Jugendlichen schießt.“
An solchen Stellen wird
dieses Buch und wird dieser irenische, freundliche Professor
aus Lübeck brandgefährlich für unsere politische
Korrektheitsfassade. Er lässt sie krachend zum Einsturz
bringen. In jedem Fall, so scheut sich Rolf Verleger nicht
zu sagen, auch bei einer Palästinenserin, die ihren
ermordeten Bruder rächen will und sich deswegen in einem
Haifaer Strandrestaurant in die Luft sprengt: „in jedem Fall
gelte das Prinzip: „Was dir verhasst ist, das tu Deinem
Nächsten nicht an!“.
Darin liegt die gewinnende
Sprengkraft des Buches, zwingend macht dieser Rolf Verleger
klar, dass Israels Politik dem Judentum die Seele raubt, ihm
seine Identität stiehlt, die alte Lehre von Hillel wegnimmt,
Immanuel Kant verleugnet, also auch jede aus dem Humus des
Christentums gewachsene Moral. Handele stets so, dass die
Maxime deines Handelns die Maxime aller anderen sein könnte.
Ja, für diejenigen, die lesen können und noch nicht völlig
im imperialistischen Sumpf der USA ersoffen sind, fügt er
den Satz von Hillel noch hebräisch hinzu:
„deAlachj Ssani leChawrach
lo ta’awed“.
Es kommt dieses
inhaltsgewaltige Buch wie ein religiös-moraltheologischer
Traktat daher. Aber in einem Punkt hat das Buch von Rolf
Verleger nichts Theologisches, es ist nicht harmlos, es ist
unbedingt, unmissverständlich und weicht nicht von dieser
Hillel Position. Das unterscheidet ihn z.B. von den
deutschen katholischen (und auch evangelischen) Bischöfen.
Die haben sich einmal ertappt bei spontanen Gefühlen der
Mitmenschlichkeit, sie haben dazu einiges für die deutsche
Öffentlichkeit Erhellendes aber auch einiges Ungeschickte
gesagt. Nur zuckten sie, zurückgekehrt nach Deutschland,
zurück und werden die nächsten 10 Jahre nicht nur keine
gemeinsame Bischofskonferenzreise mehr nach Israel/
Palästina machen, sie werden dazu auch nicht noch einmal
etwas sagen oder verlautbaren.
Der erste Teil ist wie in
der Moraltheologie überschrieben: „Wisse, woher Du kommst“,
der zweite heißt ähnlich formelhaft: „Und wisse, wohin Du
gehst…“, der dritte dann ist noch mal die Glaubensanwendung
von Erkenntnis für einen zutiefst Gläubigen wie es Verleger
ist: „…und vor wem Du zukünftig Rechenschaft ablegen musst“.
Das entscheidende
politische Datum für den Autor und Mitglied des Zentralrats
der Juden ist die Äußerung vom Juni 1938 von Staatsgründer
David Ben Gurion: „Ich bin für Zwangsumsiedlung, daran sehe
ich nichts Unmoralisches“. Das hieß für den religiös und
kantianisch
imprägnierten Autor: Der nationale Zweck heilige die Mittel.
Moralische Skrupel? Das war nur noch Ballast aus der
Vergangenheit, oder etwas für Ghetto Bewohner und
Weichlinge.
Er zählt die Verluste und
die Folgen der Vernichtung auf, die er in seiner Familie
hatte. Die Eltern seiner Mutter kamen aus der Verschleppung
nach Estland nicht zurück. Die Großmutter wurde straffällig,
weil sie in Berlin ohne Judenstern zum Friseur gegangen war.
Der Großvater ist verschollen in Estland. Die Eltern ihrer
Mutter wurden nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz
verschleppt. Von den drei Geschwistern ihres Vaters
überlebten zwei die Nazihölle nicht (leider: usw.).
Noch einmal zitiert
Verleger etwas doppelt: Im englischen Original und in
deutscher Übersetzung. Wenn man es liest, begreift man
sofort, warum er das tut: Es ist brandaktuell, was Hannah
Arendt damals nach dem Krieg geschrieben hat, es wirkt wie
reine Prophetie und ist doch ‚nur’ hellsichtige Prognose:
Das sei ein Wendepunkt in
der Geschichte des Zionismus. Das revisionistische Programm
habe gesiegt. Die Araber kommen gar nicht mehr vor. Dieses
sei ein Todesstoß gegen diejenigen jüdischen Parteien in
Palästina selbst, die unermüdlich die Verständigung zwischen
dem arabischen und dem jüdischen Volk predigen. Die
Errichtung eines jüdischen Staates mag als eine sehr hübsche
Lösung erscheinen. Auf lange Sicht könne man sich kaum eine
Entwicklung vorstellen, die gefährlicher und abenteuerlicher
wäre. Wörtlich – geschrieben 1945, wirkt es wie 2008
aufgezeichnet: „Nur Torheit kann eine Politik vorantreiben,
die auf den Schutz einer entfernten Weltmacht vertraut,
während sie sich dem Wohlwollen der Nachbarn entfremdet.
Welches Programm haben die Zionisten für die Lösung des
arabisch-jüdischen Konflikts zu bieten?“ Und Arendt
verschärft das noch einmal unerbittlich: „Wenn Zionisten auf
ihrer sektiererischen Ideologie verharren dann werden sie
auch die kleinen Chancen verspielen, die kleine Völker in
dieser unserer nicht sehr schönen Welt heute noch haben“.
Der dritte Teil ist dann
noch den vielen Kämpfen in der Bundesrepublik gewidmet, in
denen Prof. Verleger ja nicht zu Wort kommt, weil er
möglichst nicht als alternative Stimme zu Wort kommen soll:
„Der Vorwurf des ’Antisemitismus’ als Mittel zur Ausgrenzung
unliebsamer Meinungen“ trifft auch ihn als deutschen Juden.
Die Diskussion in Deutschland sei möglich, aber unerwünscht.
Heute würde man auch Martin
Buber und Hannah Arendt zum Schweigen bringen. Er bringt den
Briefwechsel mit einem dieser verbohrten Leserbriefschreiber
aus dem Internet, um zu zeigen, wie betoniert die Haltungen
in Deutschlands öffentlicher Meinung nicht nur sind, sondern
unbedingt bleiben sollen. Leider hat die Bundeskanzlerin aus
einem ehrenhaften subjektiven Nachholbedürfnis noch einiges
dazu getan, dass wir uns aus dieser Zwangsjacke gar nicht
mehr befreien sollen.
Manche Fragen lässt der
Autor so stehen, wie er sie in der Realität vorfindet.
Natürlich konnte er davon ausgehen, dass seine versöhnliche
und nur dem Frieden dienende Erklärung „Shalom 5767“
Millionen von Deutschen neben den 71 jüdischen
Erstunterzeichnern hätte finden können. Nur hätte das der
Leichtigkeit bedurft, diese Erklärung einfach in den Kirchen
am Sonntag auslegen zu lassen. Fast alle Kirchgänger hätten
unterschrieben. Ich kenne niemanden, der das Papier nicht
unterschrieben hat, nachdem ich es ihm zum Lesen gegeben
hatte.
Rolf Verleger: Israels
Irrweg. Eine jüdische Sicht.
PapyRossa Verlag Köln
2008, 165 Seiten
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