Ashraf
Vera Macht
Ashraf Abdellatif Igtifan wurde 1980 in Gaza Stadt geboren. Er wuchs auf
inmitten von fünf Brüdern, zwei Schwestern, und alltäglicher Gewalt. Als Ashraf
elf Jahre alt war, warf sein 14-jähriger Bruder Rami, der auf seinem leicht
vergilbten Foto frech und aufgeweckt in die Kamera lächelt, einen Stein auf
einen israelischen Soldaten, Gaza war von Israel besetzt. Als ein daneben
stehender Soldat dies sah, nahm er seine Waffe und schoss Rami zwischen die
Augen, die Kugel blieb im Gehirn stecken. Der hirntote Junge wurde nach Israel
gebracht, die Familie bekam ihn aufgeschnitten zurück, sämtliche Organe, sogar
die Augen, fehlten. Die Eltern gingen vor Gericht und gewannen. Der Soldat, der
Rami erschossen hatte, wurde wegen Totschlags an einem Kind zu 15 Tagen
Gefängnis verurteilt. Ja, Tagen. Er wurde zudem um zwei Dienstgrade
hinuntergestuft.
Doch Ashraf träumte trotz allem von einem besseren Leben in Israel. Als er 19
Jahre alt war und Gaza noch kein Gefängnis, gelang ihm die Flucht. Er ging nach
Tel Aviv und fing an, dort als Tellerwäscher zu arbeiten. Sein Gehalt mag nicht
hoch gewesen sein, aber es reichte aus, um seine gesamte Familie in Gaza
ausreichend zu versorgen, nachdem durch die Blockade keiner von ihnen mehr
Arbeit hatte. 12 Jahre lang lebte und arbeitete Ashraf in Tel Aviv.
Vor fünf Monaten geschah dann das Schreckliche, dem er all die Jahre entkommen
war. Er wurde von der Polizei angehalten, und durch einen Blick in seinen
Ausweis stellten sie fest, dass er aus Gaza war. Kurz darauf war Ashraf zurück
in seiner Heimatstadt. Doch die Freude des Wiedersehens währte nur sehr kurz.
Ashraf fand seine Familie in ärmlichen Verhältnissen vor, und nun kam überhaupt
kein Geld mehr von draußen, keiner hatte mehr Arbeit. Er fing an, zwei junge
Männer aus dem Familienkreis, Jihad Fathi Khalaf, 21, und Tal'at Ar-Ruwagh, 25,
beim Steine zu sammeln zu begleiten, damit wenigstens etwas Geld hinein kam. Sie
gingen täglich in das Gebiet einer ehemaligen israelischen Siedlung, im Norden
Gazas, unweit von der Grenze zu Israel.
Doch das fehlende Geld und die damit verbundene Sorge, sich nicht mehr um seine
Familie kümmern zu können, war nicht das einzige, was Ashraf verzweifeln ließ.
Jeden Tag sah er hinüber in das Land, das für viele Jahre seine Heimat gewesen
war, in dem seine Arbeit war, seine Wohnung, seine Freunde, sein Leben. „Nein,
Ashraf war nicht verheiratet”, sagt sein Vater, „das wäre nicht gegangen. Ich
hätte der Heirat zustimmen müssen, und die ganze Familie muss doch bei dem Fest
anwesend sein.” Er hatte angefangen, eine Heirat für seinen Sohn zu planen, ihm
mögliche Partnerinnen vorgeschlagen. Doch jedes Mal lehnte Ashraf mit einer
Ausrede ab, oder wechselte das Thema. Vielleicht war er nach so vielen Jahren
doch etwas von der Tradition abgewichen. Vielleicht wartete entgegen Vaters
fester Überzeugung doch eine Freundin auf ihn in Israel, wer weiß, vielleicht
hatte er sogar eine Familie dort.
Und so wuchs in ihm ein Plan, der aus einer Mischung aus Dummheit und Naivität
bestand, so dass man ihn und seine beiden Freunde, mit denen er Steine sammelte,
am liebsten schütteln würde, wenn sie diese Dummheit nicht schon mit dem Leben
bezahlt hätten.
Man kann sich Ashraf richtig vorstellen, wie er den beiden von dem besseren
Leben in Israel vorschwärmte, von den Chancen und der Freiheit, die sie dort
hätten. Und die beiden, die es doch besser hätten wissen müssen, die tagtäglich
mit der Gewalt des israelischen Militärs in der Pufferzone konfrontiert waren,
glaubten auf einmal, das Gebiet gut genug zu kennen, um
eine Möglichkeit zu sehen. Die beiden jungen Männer hätten
es doch besser wissen müssen. Sie alle hätten es doch besser
wissen müssen.
„Vielleicht dachte er, dass die Soldaten an der Grenze so
wären, wie die Menschen mit denen er in Tel Aviv gearbeitet
hat. Vielleicht dachte er, dass sie ihn nicht gleich
erschießen würden”, meint sein Vater leise.
Was auch immer Ashraf gedacht hat, er wollte unbedingt
zurück. In der Nacht zum 17. Februar 2011 machten er und
seine beiden neuen Freunde sich auf den Weg zur Grenze.
Glaubten sie wirklich daran, dass das gut gehen würde?
Ashraf war vielleicht noch nicht ganz klar geworden, dass
Gaza sich während der langen Jahre seiner Abwesenheit in
einen Hochsicherheitstrakt verwandelt hatte. Sie hatten die
Grenze noch nicht einmal erreicht, als sie beschossen wurden
– von einem nahe gelegenen Kriegsschiff auf dem Wasser, von
einer Drohne aus der Luft und einem Panzer an der Grenze.
Ashrafs halber Kopf fehlte, als die drei Körper vier Stunden
später, gegen sechs Uhr früh, geborgen werden konnten.
Keinerlei Waffen wurden gefunden, weder bei den Körpern noch
in der näheren Umgebung.
„Ich weiß nicht, ob er irgendjemandem von seinen Freunden in
Israel von seinem Plan erzählt hat”, meint sein Vater. „Er
hat nicht einmal mir gesagt, dass er es in dieser Nacht
versuchen würde.” In der Erklärung des israelischen Militärs
hieß es, es wurde „ein Terroranschlag verhindert”, die
Männer wären dabei erwischt worden, „Sprengstoff an der
Grenze zu deponieren”. Und so stand die Geschichte wohl in
den israelischen Medien. Hat Ashraf seinen Freunden von
seinem Plan erzählt? Haben sie die Nachrichten gelesen?
Wissen sie, dass er tot ist, dass israelische Soldaten
keinen „Terroranschlag verhindert”, sondern ihren Freund
getötet haben, der zurück kommen wollte? Ashraf, sagt euch
der Name etwas, ihr Bewohner Tel Avivs? War er vielleicht
euer Angestellter, oder der Mann der die Teller in eurem
Stammrestaurant gewaschen hat, vielleicht habt ihr ihn beim
Hinausgehen gesehen? War er euer Freund, Partner, vielleicht
sogar Vater? Der Mann der im Bus neben euch saß, mit dem ihr
in einer langen Schlange an der Supermarktkasse ins Gespräch
kamt? Er ist tot. Habt ihr an ihn gedacht, als ihr die
Nachricht von dem glücklich verhinderten Anschlag der
Terroristen last? Von drei weiteren Toten auf dem langen Weg
zur ausreichenden Sicherheit? Ashraf war auf dem Weg nach
Hause.