TRANSLATE
Alfred
Grosser
Die schöpferische
Erinnerung
Ansprache zum Gedenken an die Reichspogromnacht
Paulskirche zu Frankfurt am Main
9. November 1938
(Es gilt das
gesprochene Wort)
Einleitung
Liebe Frau Roth ! Sehr
geehrter Herr Graumann! Sehr geehrter Herr Korn!
Es ist natürlich eine
große Ehre, wieder hier oben stehen zu dürfen, und
dies zu einer Zeit, in der sich die
Erinnerungskultur sehr verbessert hat. Vor einigen
Tagen hat Salomon Korn in seiner Rede zum 100.
Jahrestag der Westendsynagoge gesagt:
...errichtet,
geschändet, erneuert, teilrekonstruiert mit nunmehr
beiden religiösen Haupteinrichtungen des Judentums,
der orthodoxen und der liberalen, unter einem
Dach...
Auch die Namensblöcke
am Jüdischen Friedhof, dazu die Stolpersteine zur
Erinnerung an einige der 11.134 ermordeten Juden
der Stadt Frankfurt sind ein Zeichen, dass es kein
Vergessen gibt.
Der 9. November 1938
In jeder
Schulbibliothek sollte der dicke Band stehen, den
Raphael Gross, der Direktor des Jüdischen Museums
mit herausgegeben hat „Novemberpogrom 1938. Die
Augenzeugenberichte der Wiener Library“
(Suhrkamp 2008). In einem Moment, wo von der
Vergangenheit des Auswärtigen Amts die Rede ist,
möchte ich zeigen, dass eine gewisse
Ahnungslosigkeit auch Jahre nach dem Krieg vorhanden
sein konnte. Am 3. Februar 1968 wurde das schön
restaurierte Palais Beauharnais, die Residenz der
deutschen Botschafter in Paris, eingeweiht. Beim
Ausgang erhielt man eine Broschüre. Am nächsten Tag
schrieb ich (auf Französisch) dem damaligen
Botschafter:
Ich möchte Ihnen sagen,
wie sehr mich die Lektüre verletzt hat. Seit zwanzig
Jahren versuche ich, trotz all dem, was meine
Familie und ich selbst erlebt haben, in Frankreich
das Bild eines neuen Deutschlands durchzusetzen,
weil ich glaube, dass es dieses neue Deutschland
gibt. Nun geben mir der Beitrag des Grafen von
Welczeck und auch Ihre Zustimmung, die Ihr Vorwort
zu enthalten scheint, Grund, daran zu zweifeln.
Hitler zu dienen war
also ein diplomatischer Dienst wie irgendein
anderer...Und vor allem, wie ist es möglich, vom
Attentat gegen den Botschaftsrat vom Rath sprechen,
ohne auch nur ein Wort über die ‚Kristallnacht“ zu
verlieren, die darauf gefolgt ist?
Je mehr ich darüber
nachdenke, desto mehr bin ich bestürzt über die
Ahnungslosigkeit, die in einem solchen Text zum
Ausdruck kommt.
Der Botschafter fragte
seine Mitarbeiter, wie er mich bestrafen könne. Die
sagten ihm, ich hätte doch recht – und die Broschüre
verschwand.
Es hat manchmal lange
gedauert, bis die Erinnerung wirklich wach gerufen
wurde. Erst 1998 durfte ich hier in Frankfurt
zusammen mit Ignaz Bubis die Tafel einweihen, die am
Clementine-Kinderkrankenhaus angebracht wurde, das
mein Vater bis 1933 gleitet hatte. Es standen sein
Name darauf und die aller Ärzte und Kinder, die
Opfer der Nazis gewesen waren. Die katholischen
Bischöfe haben erst 1975 einen wirklich schönen Text
beschlossen, in dem es heißt:
Wir sind das Land,
dessen jüngste politische Geschichte von dem
Versuch verfinstert ist, das jüdische Volk
systematisch auszurotten. Und waren in dieser Zeit
des Nationalsozialismus, trotz beispielhaften
Verhaltens einzelner Personen und Gruppen, aufs
Ganze gesehen eine kirchliche Gemeinschaft, die zu
sehr mit dem Rücken zum Schicksal dieses verfolgten
jüdischen Volk weiterlebte, deren Blick sich zu
stark von der Bedrohung der eigenen Institutionen
fixieren ließ und die zu den an Juden und Judentum
verübten Verbrechen geschwiegen hat.
Damals, nach dem 9.
November 1938n, hatte es Dinge wie den Aufruf des
Landeskirchenrats der Tübinger Kirche gegeben „am
Bußstag in allen Gottesdiensten zu verlesen“:
Der feige Mord eines
Juden an dem Gesandtschaftsrat vom Rath in Paris hat
unser gesamtes deutsches Volk auf tiefste empört.
Dieses Verbrechen erhellt schlaglichtartig worum es
heute geht. Es geht um den weltgeschichtlichen Kampf
gegen den volkszersetzenden Geist des Judentums. Der
Nationalsozialismus hat in unserer Zeit diese
Gefahr am klarsten erkannt... Aufgabe der Kirche in
Deutschland ist es, aus christlicher Verantwortung
in diesem Kampf treu an der Seite des Führers zu
stehen.
Heute versucht man,
Polen einen Teil der Kriegsschuld zuzuschreiben. In
den Schulbüchern sollten einfache Zitate Hitlers
stehen:
(An die Generäle)
23.Mai 1939 Es entfällt aber die Frage, Polen zu
schonen und bleibt der Entschluss, bei erster
passende Gelegenheit, Polen anzugreifen.
22. August Wir
brauchen keine Angst vor Blockade zu haben. Der
Osten (die Sowjetunion, d.Verf.) liefert uns
Getreide, Kohle, Blei, Zink... Ich habe nur Angst,
dass mir noch im letzten Moment irgendein
Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt.
Aber man darf auch
daran erinnern, dass der Antisemitismus damals auch
polnisch war. Ende 1936 zogen mehrere tausend
Studenten auf Pilgerfahrt nach
Częstochowa. Sie wollten „die polnische
Nation in einen rein katholischen Staat
verwandeln... und nicht nachgeben, bis der letzte
Jude aus Polen verjagt sei, tot oder lebendig“. Der
Kardinal-Primas August Hlond hatte im Februar
gesagt: „ Ein Problem der Juden wird es bestehen,
solange Juden Juden bleiben.“
In Deutschland hat
sich die erinnerungsschwere Haltung in Willy Brandt
verkörpert. Wenn Sie heute Warschau besuchen, sehen
Sie vor dem großen Ghetto-Denkmal ein kleineres, das
den Kniefall von 1970 zeigt. Der junge Sozialist
Herbert Frahm bzw. Willy Brandt war 1933 geflohen
und hat bis 1945 Hitler bekämpft. Schuld hatte er
wirklich keine. Aber als Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland trug er die Haftung, die Last der
Vergangenheit.
DIE Deutschen gibt
es nicht
Man sollte nie „die“
sagen. Schimon Peres hat in seiner Berliner Rede zu
Unrecht gesagt: „Wie gelähmt ein ganzes Volk war?“,
„Wie kann ein Volk sich als ‚Herrenrasse’ betrachten
und den Mitmenschen als null und nichtig?“ Kurt
Schumacher war schon im Frühling 1933 im KZ, weil er
im Reichstag gesagt hatte, der Nationalsozialismus
sei ein Appell an den inneren Schweinehund im
Menschen. Von den 1244 nicht NS-Abgeordneten des
Reichstags sind 766 verfolgt worden, 416 kamen im
KZ, 88 wurden ermordet. Vor allem aber haben viel
mehr nicht-jüdische Deutsche jüdischen Deutschen
geholfen als es immer noch angenommen wird. In
seinem Vorwort zum soeben erschienenen, von mir
benachworteten Buch von Kurt Loew Die deutsche
Schuld. Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen
(Olzog Verlag 2010), schreibt Klaus von Dohnanyi:
„Diese Menschen sind
bis heute weitgehend unbekannt geblieben und
vergessen worden. Löw hat für sie das Zeugnis
verfolgter Juden eindrucksvoll in Erinnerung
gebracht...(Man sollte wissen) über all die
widerständigen, die barmherzigen, die mutigen
Deutsche der Jahre der Verbrechen. Sie waren viel
zahlreicher, als allgemein angenommen wird.“
Dies in der Zeit, in
der es hieß: „Lieber Gott, mach mich stumm / dass
ich nicht nach Dachau kumm.“
Ich brauchte aber
diese Dokumente nicht. Im August 1944 war ich mit
falschen Papieren in Marseille. Die BBC berichtete,
dass die alten Häftlinge von Theresienstadt nach
Auschwitz überführt worden waren. Darunter sicher
(eine Frankfurter Forscherin hat es später
bestätigt) Tante Ida und Onkel Kurt, die Schwester
meines Vaters und ihr Gatte, ein Berliner Arzt, der
nicht hatte auswandern wollen. Ich dachte da an den
Tod meines Vaters durch Herzversagen, einen Monat
nach der Emigration und an den meinen Schwester, im
April 1941 mit 19 in Südfrankreich gestorben an
einer Blutvergiftung, die sie sich bei unserer
Radfahrflucht vor der Wehrmacht zugezogen hatte.
Geschlafen habe ich in dieser Nacht wenig, aber am
nächsten Morgen war ich sicher, endgültig sicher,
dass es keine Kollektivschuld gebe, so grauenhaft
die Verbrechen, so zahlreich auch die Verbrecher.
Dann kam bald die Überzeugung, dass ich, gerade im
Gedanken an die Verstorbenen, eine Mitverantwortung
trug für die Zukunft einer freiheitlichen Demokratie
in Deutschland. Im Film Der Untergang
verleiht Hitler das Eiserne Kreuz an einige
fünfzehnjährige Pimpfe. Die zur Demokratie führen,
das war unsere deutsch-französische Aufgabe. Ganz
von selbst ging es nicht. Vor einigen Jahren ging
ich mit dem lokalen MdB, dem befreundeten Wolfgang
Schäuble zum 50. Jahrestag der Gründung des Höllhofs,
einer Einrichtung, die im Schwarzwald von einem
französischem Besatzungsbeamten für ehemalige
HJ-Führer eingerichtet wurde, die keine persönliche
Verbrechen begangen hatten und die drei Wochen lang
mit Besuchern sprechen sollten – Widerstandskämpfer,
Gewerkschaftler, Kirchenleute – um ihnen zu helfen,
sich der Welt zu öffnen. Ich hatte am Anfang ein
unangenehmes Gefühl: Wenn sie vor wenigen Jahren
den Befehl bekommen hätten, mich in eine Gaskammer
zu schieben, hätten sie wahrscheinlich gehorcht.
Aber, wie ich es im Oktober 1947 in einer
Artikel-Reihe „Jugend in Deutschland“ für die
Résistance-Zeitung Combat geschrieben hatte,
sollte man den jungen Deutschen die Grenzen öffnen,
um sie nicht in einen neuen Nationalismus verfallen
zu lassen.
Ganz im Sinne unserer
französischen Verfassung von 1946. Der Beginn der
damaligen Präambel steht noch in der heutigen: „Nach
dem Sieg über die Regime, die versucht haben, den
Menschen zu versklaven und zu erniedrigen.“ Die
Verfassungsväter wussten, dass nicht alle Franzosen
im Widerstand gestanden hatten und dass Dachau zwar
von Deutschen, aber für Deutsche eingerichtet worden
war. Das sagte ständig mein Freund Joseph Rovan, der
gleich nach seiner Befreiung aus Dachau einen
bahnbrechenden Zeitschriftenartikel geschrieben
hatte; L’Allemagne de nos mérites – das
Deutschland, das wir uns verdienen werden. Verdienen
zusammen mit gleichgesinnten Deutschen. Als ich im
August 1947 zum ersten Mal meine Vaterstadt
Frankfurt als junger Journalist und Germanist
besuchte, wurde ich vom Oberbürgermeister Walter
Kolb empfangen, der aus dem KZ kam. Wir hatten uns
nicht zu „versöhnen“, sondern uns der gemeinsamen
Aufgabe bewusst zu werden. 1949 hieß dann der erste
Redner, den wir zum politischen Vortrag an der
Sorbonne einluden Eugen Kogon., der das
beeindruckendste Buch über Buchenwald geschrieben
hatte.
Eine Randbemerkung
dazu: De Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von
Reims, Kohl und Mitterrand in Verdun, die Kanzlerin
am Arc de Triomphe zum letzten 11. November: sicher
erfreuliche Ereignisse, aber alle auf den Ersten
Weltkrieg bezogen. Für den Zweiten hätten sie sich
in Dachau die Hand reichen sollen.
Die jungen Deutschen
und Auschwitz
Es wird immer
schwieriger, jungen Deutschen – ich führe oft
Gespräche in Gymnasien – zu erklären, warum die
Last der Vergangenheit noch auf ihren Schultern
liegt, warum sie ihre Grundeinstellung an der
gemeinsamen Erinnerung an das größte Verbrechen
orientieren sollten. Untersuchungen zeigen, dass das
Gefühl der Dazugehörigkeit zu einer haftenden
Gemeinschaft langsam schwindet. Die erste Antwort
ist, dass sie einem besonderen Land angehören, dem
einzigen in Europa, dessen Wurzel nicht die Nation
ist, sondern eine politische Ethik, die der
doppelten Ablehnung des Nationalsozialismus in der
Vergangenheit und des Stalinismus in der
Nachbarschaft bis 1990. Die zweite ist vom
Bundespräsidenten Horst Köhler gegeben worden. In
seiner Tischrede vom 26. Januar zu Schimon Peres
sagte er:
Die Verantwortung an
der Shoa ist und bleibt Teil der deutschen
Identität... Wir sehen einen Auftrag darin. In
unserem Einsatz und in unserer Arbeit für die
Freiheit, für die Menschenrechte und für die
Gerechtigkeit.
Noch klarer im Februar
2005 vor der Knesset:
Die Würde des Menschen
ist unantastbar. Diese Lehre aus den
nationalsozialistischen Verbrechen haben die Väter
unseres Grundgesetzes im ersten Artikel unserer
Verfassung festgeschrieben. Die Würde des Menschen
zu schützen und zu achten ist ein Auftrag an alle
Deutschen. Dazu gehört, jederzeit und an jedem Ort
für die Menschenrechte einzutreten. Daran will sich
die deutsche Politik messen lassen.
Ich muss gestehen, dass
ich dachte, er bezog dies auf das Schicksal der
Palästinenser. Aber das war – in meinen Augen
leider- nicht der Fall.
Ich glaubte, man könne
über diese meine Einstellung ruhig diskutieren
seitdem ich vor wenigen Wochen der
Friedenspreisverleihung an David Grossman beigewohnt
hatte. Dessen mutige Grundeinstellung ist vom
Laudator Joachim Gauck auf Englisch, dem anderen
heutigem Deutsch, beschrieben worden: Right or
wrong, my country. If it is
right, might it be kept right. If it is wrong, might
it be set right. Leider
muss ich sehen, dass Helmut Schmidt und Fritz Stern
recht behalten, als sie in ihrem Gesprächsbuch
Unser Jahrhundert (Beck Verlag 2010) gesagt
haben:
Schmidt: Dann ist es
ins Extrem gegangen – right or wrong, mein
Israel- das ist für mich eine erstaunliche
Entwicklung.
Stern: Die israelische
Presse, die israelische Öffentlichkeit ist viel
offner als mein Land (die USA, d. Verf.), wo Kritik
an Israel schnell als Antisemitismus gilt.
Schmidt: Es ist in
Deutschland auch ziemlich schlimm. Auch hier wagt
kaum einer Kritik an Israel aus Angst vor dem
Vorwurf des Antisemitismus.
Es geht ja nicht nur um
die israelische Politik. Die schöpferische
Erinnerung soll sich jeglicher Verletzung der
Grundwerte entgegensetzen. Wieso haben eine Million
Deutscher ein Buch nicht gelesen, das sie gekauft
hatten? Sonst hätten sie doch Protest erhoben gegen
den Sozialrassismus von Thilo Sarrazin. Für noch
gefährlicher als die Moslems hält er die
„Besitzlosen und Leichtsinnigen, die häufig genug
noch durch Laster alle Art hinabgezogen werden“, die
– zu 80% aus genetischen Gründen – „bildungsfernen
Schichten“, die leider mehr Kinder bekommen als „die
Bildungsnahen“, „die Sorgsamen und Mäßigen, welche
auch in anderen Beziehungen gewissenhaft leben“ (wie
z.B. die Vorstände der bayerischen Landesbank !!).
Ich dachte, diesen Rassismus gebe es nicht mehr seit
der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die Grundwerte
In meinen Augen gibt es
zwei nicht gerade immer hervorgehobene Grundwerte,
die für mich gerade bei der Betrachtung der
abgründigen Vergangenheit zentral sind. Der eine
ist das Mitgefühl mit dem Leiden der anderen. Ignatz
Bubis hatte das. In der ihm gewidmeten Ausstellung
im Frankfurter Jüdischen Museum konnte man sehen,
wie er sofort mitfühlend da war, wenn ein türkisches
Haus in Flammen stand. In einer harten Diskussion
mit Erika Steinbach sagte ich: „ Sie brauchen mich
nicht über deutsches Leiden aufzuklären. In meinem
ersten Deutschland-Buch L’Allemagne de l’Occident
1945-1952, Anfang 1953 erschienen, sprach ich
von den Bombennächten in Hamburg und in Dresden,
auch von den Millionen Vertriebenen, von denen viele
Tausende nie angekommen sind. Warum? Weil wir von
keinem jungen Deutschen verlangen konnten, das
Ausmaß von Hitlers Verbrechen zu verstehen, solange
wir nicht ein echtes Mitgefühl gezeigt hatten für
die Leiden der Seinen.
Heute sage ich, wenn es
auch schockieren mag, dass man von keinem jungen
Palästinenser erwarten kann, dass er das
Schreckliche der Attentate einsieht, wenn man nicht
ein echtes Mitgefühl zeigt für das große Leiden in
Gaza und in den „Gebieten“. Dabei darf man doch die
Hoffnung haben, dass eines Tages die Formeln zur
Wirklichkeit werden, die David Ben Gurion am 14.Mai
1948 verwendet hat, die der Grundeinstellung des
„laizistischen“ Theodor Herzl entsprachen und deren
Anwendung durch vielseitiges Verschuldung vereitelt
wurde:
Der Staat Israel wird
der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der
Juden im Exil offen stehen. Er wird sich der
Entwicklung des Lands zum Wohle aller seiner
Bewohner widmen. Er wird auf Gleichheit,
Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Propheten
Israels gestützt sein. Er wird allen seiner Bürger,
ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht,
soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.
Diese Anerkennung der
Gleichheit aller, des Respekts für alle scheint mir
wichtiger für den Frieden zu sein als die
Waffengewalt. Vielleicht weil ich an den Sammelband
denke, den mir Kollegen und ehemalige Studenten zu
meinem 65. Geburtstag gewidmet haben und in dem alle
das vielseitige Thema des Titels behandelten: L’Autre
– der Andere.
Um das Leiden der
Anderen zu verstehen – und das habe ich für Serben
und Kroaten „gepredigt“, in Beirut, in Budapest, in
Prag, in Warschau, auf Zypern – muss man den zweiten
Grundwert praktizieren, jenen, den Immanuel Kant in
seinem Was ist Aufklärung? gemeint hat, als
er aufforderte, frei zu denken. Wenn ich allen
Erziehern einen Auftrag stellen könnte, würde es
sein: Stellt euch die Frage: „Wie kann ich befreien
ohne zu entwurzeln?“. Jeder sollte seine
Zugehörigkeiten in Frage stellen, ohne sich von
ihnen loszulösen. Es ist, weil ich voll Franzose
geworden war, dass ich während des Algerienkriegs
ständig die französischen Dörfervernichtungen und
Folterungen in Wort und Schrift brandmarkte. Es ist,
um mit Hitler zu sprechen, weil meine vier
Grosseltern und meine beiden Eltern Juden waren,
dass ich mehr Hoffnung auf eine Veränderung der
Politik Israels lege als wenn es sich um ein
afrikanisches oder südamerikanisches Land handeln
würde.
Aber nicht nur
deswegen. Israel gehört zu unserer westlichen Welt.
Im Namen derer Werte treten wir anderen Kontinenten
gegenüber und verlangen von ihnen, dass sie diese
unsere Werte praktizieren. Da sind wir nur
glaubwürdig wenn wir exemplarisch sind. Das gilt für
die französischen Gefängnisse, deren
menschenunwürdigen Zustände regelmäßig vom
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Recht
verurteilt werden. Das gilt für die vollstreckten
Todesurteile in den USA, denen vor allem arme oft
unschuldige Schwarze zu Opfer fallen. Das gilt für
die Art, wie wir die Asylsuchenden behandeln.
Ist das leerer
Moralismus, reine Naivität? Ich glaube es nicht.
Warum haben wir denn gegen Hitler gekämpft, wenn
nicht im Namen einer Moral? Am 9. November 1938 ist
diese Moral noch verbrecherischer mit Füssen
getreten worden, als es bereits seit dem 30. Januar
1933 geschehen war. Und die Pogromnacht, die
Pogromtage, die folgten, waren ein Vorspiel für eine
Menschenvernichtung, die in ihrer Methode und ihrem
Ausmaß auch die schlimmsten Erwartungen bei weitem
übertraf.
Mancher von Ihnen wird
nicht eingesehen haben, was ich in meiner Rede
gemeint und gewollt habe, wie sehr die schöpferische
Erinnerung seit bald sieben Jahrzehnten mein Leben
und ein Wirken bestimmt hat. Aber ich muss da hier
sagen, wie Martin Luther vor dem Kaiser: „Hier stehe
ich und kann nicht anders“.
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