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Zum
„alltäglichen Antisemitismus“
Jürgen Jung
(SZ, 27. 2.
2015, S. 3)
Wieder einmal
ein Artikel, der vor allem Befindlichkeiten in den Vordergrund rückt,
subjektive Wahrnehmungen. Die „wirkliche“ Wirklichkeit, die objektive,
kommt leider nur – wenn überhaupt - entstellt vor.
Schon, daß über
die Karikaturisten in Paris „mehr geschrieben“ wurde als über die 4 im
Supermarkt erschossenen Juden, scheint nach Ansicht der Verfasserin ein
Anzeichen von subtilem Antisemitismus. Nun, die Empörung gläubiger
Muslime und auch die Anschläge wurden ja ausgelöst durch jene den
Propheten verhöhnenden Karikaturen. Deren Macher standen daher
naturgemäß im Fokus der Berichterstattung. Wieso sollte dies Ausdruck
von Antisemitismus sein? Etwa weil man die toten Juden nicht gebührend
als die „ewigen Opfer“ bedachte?
Und Juden wurden
ermordet, „weil sie Juden sind“, lesen wir da. Nicht vielleicht eher,
weil sie sich in Ihrer überwältigenden Mehrheit rückhaltlos mit Israel
identifizieren, dem – aus Sicht der Araber allemal - kolonialistischen
Siedler-Staat, der die palästinensischen „Brüder“ seit nahezu hundert
Jahren systematisch enteignet, vertreibt, diskriminiert, entwürdigt und
demütigt? Alle paar Jahre überzieht dieses Israel - irgendein Vorwand
findet sich immer - sie auch noch mit verheerenden Kriegen – in der
Sprache des Völkerrechts zumeist verbotene „Kollektivbestrafungen“. So
auch im Sommer 2014, als mal eben 2200 Palästinenser im Gaza-Streifen,
überwiegend Zivilisten, darunter etwa 500 Kinder (daher die Rufe auf den
Demonstrationen: „Kindermörder - Israel “), umgebracht wurden. Sonja
Zekri hat in dieser Zeitung (am 14. 1. 15, S. 11) einen Araber zitiert:
„Ihr seid einen Tag lang Charlie Hebdo, wir sind jeden Tag Gaza.“
„Wieso druckt
die SZ [am 2. 7. 2013, S. 15] eine Karikatur von einem gehörnten
Monster“, fragt die Autorin entrüstet, „wenn es um die Entwicklung des
Zionismus geht?“ Sollte auch die eigene Zeitung, die SZ, ein Blatt sein,
das antisemitische Vorurteile bedient? Und sie zitiert die
Bildunterschrift: „Deutschland serviert. Seit Jahrzehnten wird Israel,
teils umsonst, mit Waffen versorgt.“ Den zweiten Teil der
Bildunterschrift unterschlägt sie unkollegialerweise: „Israels Feinde
halten das Land für einen gefräßigen Moloch. Peter Beinart beklagt, dass
es dazu gekommen ist.“ Der u. a. für die israelische Ha’aretz
schreibende amerikanische Publizist Peter Beinhart, ein Jude, einer der
beiden auf der SZ-Seite rezensierten Autoren, beklagt also, dass es zu
dieser feindseligen Einstellung Israel gegenüber gekommen ist. Man hätte
gern erfahren, was daran antisemitisch sein soll?
Interessant ist,
dass die Autorin das „Monster“ in den Zusammenhang der „Entwicklung des
Zionismus“ rückt. Nun ist es eine nicht zu bestreitende empirische
Feststellung, dass das zionistische Israel - lange vor der Aufnahme
diplomatischer Beziehungen - zunächst insbesondere von Deutschland
(„Wiedergutmachung“ – als ob das ungeheure Verbrechen des Judenmordes
einen materiellen Tauschwert hätte), später dann auch von den USA mit
gewaltigen Summen - und stets auch Waffen! - „versorgt wurde“ und nach
wie vor wird, so dass das kleine Land heute eine der größten
Militärmächte der Welt ist.
Entscheidend zum
Verständnis der SZ-Karikatur - deren Zeichner sie übrigens nicht einmal
auf den Palästina-Konflikt bezogen hatte - ist die Tatsache, daß die
Palästinenser Israels zur Zeit der Staatsgründung ca. 93 Prozent des
Kernlandes besaßen, heute dagegen nicht ganz 3 (!) Prozent - und sie
haben das Land nicht freiwillig hergegeben. Israel hat es sich mit den
verschiedensten Methoden – sagen wir - „einverleibt“. Die Assoziation
„Moloch“ – eben nicht Monster – ist also keineswegs abwegig oder gar
antisemitisch. Im Übrigen darf Satire doch – das wurde uns ja seit dem
Anschlag von Paris regelrecht eingebleut - angeblich alles.
Augenscheinlich gilt dieser Grundsatz hier, wo es um „den Zionismus“
geht, nicht mehr. Es handelt sich hier also mitnichten um
Antisemitismus, sondern eher um westliche Doppelmoral.
Die Krux mit dem
„Wolfsgeheul“ (Günter Grass), das man in der letzten Zeit nahezu täglich
hinnehmen muß, ist ja ganz offensichtlich, dass Israel und Judentum
zumeist kurzerhand gleichgesetzt werden, so dass dann folgerichtig die
den Staat Israel treffen sollende Kritik, hier die Karikatur, als
„antisemitisch“ diffamiert wird. Dabei kommt die denkbar schärfste
Kritik an Israel von Israelis selbst, von Juden weltweit (wie Peter
Beinart), die dann wohl groteskerweise auch alle als „Antisemiten“ zu
gelten hätten, bzw. als „jüdische Selbsthasser“, so heißt diese
Krankheit ja im Falle von Juden.
Du heilige
Einfalt!
Laut
Innenministerium in Berlin registrierte die Polizei im Jahr 2014
bundesweit 10541 Delikte, darunter 496 Gewalttaten, von denen wiederum
316 einen „fremdenfeindlichen Hintergrund“ hatten, die meisten von ihnen
eher anti-islamisch motiviert. Dagegen gab es nur 25 judenfeindliche
Gewalttaten. Jede einzelne selbstverständlich eine zu viel. Dennoch
lassen die verfügbaren Zahlen die ständig behauptete Zunahme des
Antisemitismus als kaum belegbar erscheinen.
Diese angebliche Zunahme stellt auch der gläubige Jude Terry Swartzberg,
Publizist und
Vorsitzender der Initiative „Stolpersteine für München“,
in Frage, der seit Dezember 2012 jeden Tag offen und für jeden sichtbar
die Kippa trägt (SZ, 18. 2. 15, S. 34). Nach diesem über zwei Jahre
dauernden „reality check“ sagt er, Ausländerhass sei zwar nach wie vor
ein großes Problem, Juden allerdings müssten sich - seiner Erfahrung
nach - nicht fürchten. Offenem Antisemitismus sei er nie begegnet:
„Deutschland ist kein antisemitisches Land! Wenn Deutsche Gefühle für
Juden haben, sind es meistens positive.“
Oder es ließe sich
der in Berlin lebende israelische
Musiker
Etay Naor zitieren, der feststellte:
„Es ist
gefährlicher, ein Araber oder ein Linker in Israel zu sein, als ein
Israeli in Berlin“. Seit vier Jahren lebt er in der deutschen
Hauptstadt. Mit Antisemitismus hat auch er bislang keine negativen
Erfahrungen gemacht. „Die Mainstream-Medien reden soviel über
Antisemitismus in Deutschland, damit sie nicht über den Mord an
Zivilisten in Gaza reden müssen“, glaubt er. Die Diskussion solle
gezielt die Anti-Kriegsbewegung delegitimieren.
Oder Iris Shahar, eine 34-jährige israelische Studentin, die vor einem
Jahr nach Berlin gezogen ist: „In Deutschland haben die Menschen Angst,
gegen den Krieg in Gaza zu protestieren, weil das angeblich
antisemitisch ist. Israel beansprucht für sich, alle Juden der Welt zu
vertreten, auch die in der Diaspora. Aber viele von uns sind nicht damit
einverstanden«, erklärt Iris Shahar. Für sie ist die Definition Israels
als »jüdischer, demokratischer Staat« ein „Oxymoron“. Die Studentin legt
Wert darauf, zwischen Antisemitismus und Antizionismus zu unterscheiden.
Das eine lehnt sie ab, das andere nicht. Erst wenn die Palästinenser in
Israel gleiche Rechte haben, werde es demokratisch sein.
Oder der 27-jährige David Nelband, der als Musiker und Programmierer
arbeitet. Er unterstützt den palästinensischen Kampf ebenfalls. Er
glaubt, damit auch antisemitische Einstellungen illegitim zu machen.
»Wenn klar wird, dass es jüdische Israelis gibt, die ihren Staat
kritisieren, wäre die Gleichsetzung von Juden und Israel nicht mehr
möglich«, meint er.
Diese Israelis waren zuvor schon bei palästinensischen Demonstrationen
gegen den Krieg dabei. Nicht einmal dort hätten sie sich bedroht
gefühlt, sagen sie übereinstimmend. Die meisten palästinensischen
Gruppen distanzierten sich klar von Antisemitismus.
[Zitate aus: http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Deutschland1/israelis.html]
Zwei Gesprächspartner der SZ-Autorin meinen allerdings, die Stimmung sei
während der israelischen Militäroperation von 2014 gekippt, als Israel
den Gazastreifen bombardierte - „als Reaktion auf Raketenbeschuss durch
die Hamas“. Mit dieser gängigen Rechtfertigung des israelischen
Bombenterrors („Israel wird sich ja wohl noch verteidigen dürfen!“)
erweist sich die Autorin als nicht gut informiert, denn erst, nachdem
die israelische Armee sich bei der angeblichen Suche nach den Entführern
der drei Religionsschüler drei Wochen lang im Westjordanland „ausgetobt“
(so Peter Münch in der SZ) und dabei Tausende von Häusern verwüstet,
Hunderte Palästinenser (v. a. Hamasmitglieder) verhaftet, mindestens 5
getötet und über 80 Luftangriffe auf Gaza durchgeführt hatte [http://tinyuri.com/reuters290614],
feuerte auch die Hamas Raketen auf Israel. Dabei wußten die israelischen
Verantwortlichen seit dem Tag der Entführung, daß die Jugendlichen
bereits tot waren, und bis heute hat die israelische Regierung keinerlei
Beweise für ihre Behauptung vorgelegt, daß die Hamas für die Tat
verantwortlich gewesen sei.
Das
unverhältnismäßige – und auch deswegen völkerrechtswidrige -
israelische Vorgehen wird systematisch ausgeblendet. Andererseits werden
die Kritiker dieser Art „Selbstverteidi-gung“ in die Nähe der Nazis
gerückt: „Während des Gaza-Krieges kamen plötzlich Dinge hoch, die von
der Gesinnung im Dritten Reich nicht weit weg waren.“
Aber wehe dem, der es umgekehrt wagt, seine Israelkritik auch nur in die
Nähe eines Vergleichs mit der Nazi-Vergangenheit zu rücken. Er wird
sofort als – Antisemit gebrandmarkt.
Wie
mag die Autorin wohl die Ansicht des hochgeachteten Juden Alfred Grosser
einordnen, der konstatierte: „Die Politik Israels fördert den
Antisemitismus.“ Oder den großen alten Mann der israelischen
Friedensbewegung, Uri Avnery: „Die israelische Regierung ist ein Labor
zur Züchtung des Antisemitismus-Virus. Sie gefährdet damit Juden
weltweit.“
Alles Antisemiten, resp. jüdische Selbsthasser?
Es
ist doch eher so, daß die Zahl der nach Israel auswandernden Juden mit
steigendem „Antisemitismus“ wächst, das zionistische Israel also – sagen
wir es so – wenig Interesse an einer Abnahme des Antisemitismus hat,
denn
Zuwanderer sind für den kleinen jüdischen Staat lebenswichtig.
Gerade erst hat Netanyahu dies unverblümt bestätigt, indem er die Juden
Europas aufrief, nach Israel, „in ihre Heimat, zurückzukehren“, da
sie auf
europäischem Boden nicht sicher seien.
Und
die Autorin kann es sich nicht verkneifen, all die legitimen und gut
begründeten Anklagen der Politik Israels als vielfach „unter dem linken
Deckmantel“ vorgetragen zu denunzieren. Also auch die Linken, die es im
Namen von Völker- und Menschenrecht wagen, entschieden Einspruch gegen
die Politik Israels zu erheben, sind in diesem wenig differenzierten
Denken natürlich Antisemiten, die Antizionisten ja ohnehin.
Wann nehmen unsere blinden Israelfreunde endlich die Ergebnisse der
jüngsten, gründlichs-ten und methodisch anspruchsvollsten „Studie zu
Antisemitismus und Israelkritik“ der Universität Konstanz (Lehrstuhl
Wilhelm Kempf) von 2012 zur Kenntnis, die zunächst unzweideutig
nachwies, daß sich die allerorten beklagte Zunahme des Antisemitismus
nicht verifizieren läßt. Die Studie weist aber vor allem nach, daß es
einen einfachen linearen Zusammenhang von Antisemitismus und
Antizionismus nicht gibt. Im Gegenteil: Die 15% der Befragten, die
antizionistische Äußerungen für rechtfertigbar hielten, lehnten
antisemitische Äußerungen kategorisch ab.
Daß
die Kritik am Zionismus sich gegen seinen exklusionistisch-expansiven
Charakter mit all den verheerenden Folgen – insbesondere für die
jüdischen Israelis selbst - richtet, bleibt im hiesigen Diskurs zumeist
unerwähnt. „Nationalismus – das ist Krieg!“ – so hat es Francois
Mitterrand einmal drastisch ausgedrückt. Wie Recht er damit hatte, läßt
sich gerade am Beispiel Israels gut studieren.
Bleibt die Frage nach der Auswahl der Gesprächspartner, die in der SZ zu
Wort kommen. Sie darf wohl mit Fug und Recht als einseitig bezeichnet
werden, da sie nur eine Perspektive präsentiert, deren Berechtigung hier
selbstverständlich nicht angezweifelt werden soll. Sie allein reicht
aber nicht aus für ein angemessenes Verständnis des komplexen und so
belasteten Sachverhalts. Dazu ist es unerläßlich, auch die andere Seite
anzuhören: „Audiatur et altera pars“ ist nicht zufällig ein wesentliches
Prinzip der Wahrheitsfindung.
Die
SZ muß sich allerdings fragen lassen, was sie mit dieser Art
Berichterstattung erreichen will? Aufklärung leistet sie damit
jedenfalls nicht, sondern eher die Bestätigung gängiger Vorurteile.
So erweist sich
der Artikel in weiten Teilen als Ausdruck des doppelten Standards, der
gemeinhin gilt, wenn es um Israel, auch um die sich mit Israel
identifizierenden Juden geht. Daß man dabei dem Kampf gegen den
wirklichen Antisemitismus als Rassismus wegen seiner inflationären
Beschwörung - und damit Banalisierung - eher einen Bärendienst erweist,
scheint den falschen Israelfreunden und Philosemiten hierzulande nicht
in den Sinn zu kommen. Kurzum: der ubiquitär erhobene Vorwurf des
Antisemitismus dient letztendlich als Herrschaftsinstrument des
zionistischen Israels – so beispielsweise Moshe Zuckermann, Historiker
und Philosoph an der Universität Tel Aviv in seinem erhellenden Buch mit
dem bezeichnenden Titel: „Antisemit! Ein Vorwurf als
Herrschaftsinstrument“.
Verfaßt von
Jürgen Jung
Am 28. 2. 2015 |