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Shir Hever
„Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung.

Unterdrückung über die Ausbeutung hinaus“
ISP-Verlag Köln, 2014. ISBN 978–3–89900-140-2

Rezension von Ekkehart Drost, 7.11.2014
 

Zu den entschiedensten Aktivisten gegen die Besatzung gehört der 35jährige, in Jerusalem geborene,  israelische Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever. Er ist Mitglied des Alternative Information Center in Beit Sahour, das im Jahr 1984 als eine der ältesten Nahost-NGOs von palästinensischen und israelischen Graswurzelorganisationen gegründet wurde. Zur Zeit promoviert er über das Thema „Privatisierung der israelischen Sicherheit“. Hever gilt als Experte in Fragen der  „Political Economy of Israel's Occupation“, wie der Titel seines Buches lautet, das seit seinem Erscheinen im Jahr 2010 zu einem Standardwerk geworden ist. Viele Gruppen und Organisationen im deutschsprachigen Raum schätzen ihn als kompetenten Vortragsredner zu den Themen Militärischer Komplex, „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS) und Wirtschaft.

Hever setzt sich eingangs kritisch mit dem auch von ihm (aus praktischen Gründen) verwendeten Begriff „Besatzung“ auseinander: Dieser suggeriere einen vorüber gehenden Status. Tatsächlich aber müsse man von einem einzigen Staat Israel/Palästina ausgehen, ein Territorium, das sich über das ganze, von der israelischen Armee kontrollierte Gebiet erstreckt. Allerdings führen die besonders prekären Lebensverhältnisse der Menschen in den Besetzten Gebieten dazu, dass man von „zwei Ökonomien“ sprechen müsse, die unter israelischer Kontrolle koexistieren.

Hart geht Hever mit der Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) beim wirtschaftlichen Aufbau nach der Zweiten Intifada ins Gericht. Die PA gründete und gründet sich auf Günstlingswirtschaft, internationale Unterstützung und israelische Manipulation. Sie war nicht in der Lage, die verheerende materielle Situation der palästinensischen Bevölkerung zu verbessern – im Gegenteil: „Die Modalitäten ihres politischen Überlebens zwangen die PA häufig, im Einvernehmen mit der israelischen Besatzungsmacht zu handeln.“ (S. 30) Neve Gordon bezeichnete diese Politik sogar als „Outsourcen der Besatzung“.

Den in diesem Zusammenhang oft erhobenen Korruptionsvorwurf gegen die PA begegnet Hever sehr viel differenzierter. Er verweist auf diesbezügliche Studien der Weltbank, der OECD sowie letztlich auf den Bericht von Transparency International aus dem Jahr 2005, bei dem Palästina den 107. Platz von 158 untersuchten Staaten einnimmt. Dennoch fiel dieser Vorwurf auch innerhalb der palästinensischen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden: Der Sieg der Hamas bei den Wahlen von 2006 wird darauf zurückgeführt. Die bekannte heftige und undemokratische Reaktion der USA/EU auf dieses Wahlergebnis führte trotz der Versicherung der Fatah, in Zukunft für Transparenz zu sorgen, dazu, dass Geldsendungen an die Hamas auf undurchsichtigen Wegen, zum Teil in Koffern mit Bargeld über den Grenzübergang Rafah, weitergeleitet wurden. Darüber hinaus gingen Hilfsgelder für Infrastrukturmaßnahmen vor allem an internationale NGOs, während der PA diese Gelder entzogen wurden.

Die Arbeit der NGOs sowie die finanzielle Unterstützung durch das Ausland werden seit längerer Zeit kontrovers diskutiert. Entgegen den Tatsachen wird immer wieder behauptet, die palästinensische Bevölkerung erhalte die höchste Entwicklungshilfe pro Kopf. Tatsächlich steht Israel an erster Stelle, die Besetzten Gebiete hingegen erst auf Platz 20. Shir Hever setzt sich in diesem Zusammenhang unter anderem mit Nancy Fraser auseinander. Deren Meinung nach sei trotz kurzfristiger positiver Effekte keine nachhaltige Verbesserung der sozioökonomischen Situation zu beobachten. Die Hilfe führe  eher zu einer Verlängerung der Besatzung und diene letztlich israelischen Interessen. Hevers überzeugende Antwort: „Entwicklungshilfe (...) dient auch dazu, die Verzweiflung in Grenzen zu halten und palästinensischen Aktivisten die Chance zu geben, ihre gewaltfreien Optionen des Kampfes gegen die Besatzung zu überprüfen.“ (S. 59)

Wer bezahlt die Kosten der Besatzung, wer profitiert von ihr? fragt Hever. Die Antwort auf die erste Frage lautet: Grundsätzlich und zum größten Teil durch Steuern der israelischen Bürger; darüber hinaus von der Zionistischen Weltorganisation sowie von der staatlichen Lotterie. Es gibt aber noch zwei weitere Gruppen, die an der Finanzierung beteiligt sind: Es sind einmal die Palästinenser durch Ausbeutung des palästinensischen Marktes seitens israelischer Unternehmen als auch die verschiedenen Formen von Einkommen, die Israel auf Kosten der Palästinenser zufließen. Zum anderen sind es US-Bürger, deren Steuern dazu verwendet werden, „Israels militärische Bestrebungen zu fördern“; diese Ausgaben wurden zur größten US-Hilfe weltweit.

Auch die Antwort auf die Frage nach den Profiteuren fällt sehr differenziert und überlegt aus – ein Merkmal, das die gesamte Arbeit auszeichnet. Es gibt eben auch hier keine einfachen und schon gar keine plumpen Antworten. So werden in der öffentlichen Diskussion häufig „die Siedler“ genannt, was nur zum Teil zutrifft, in keinem Fall aber auf die Siedlungen, die zur Gemeindeverwaltung Jerusalems gehören. Und die Profite von Unternehmen innerhalb der Besetzten Gebiete lassen sich schlecht verifizieren – sie werden zumeist so verschleiert, dass sie nicht nachprüfbar sind.

Mit Sicherheit aber lässt sich sagen, dass die „Homeland Security“-Industrie und israelische Militärunternehmen zu den großen Profiteuren gehören. In Yotam Feldmans Film „The Lab“ wird dieser Umstand eindrucksvoll dokumentiert.

Shir Hever stellt am Ende dieses Kapitels fest, dass die Lasten der Unterdrückung erste Auswirkungen auf den Wohlstand und das Lebensgefühl der Israelis zeigen. Ein Indiz ist sicher die große Zahl junger, gut ausgebildeter Israelis, die vor den immensen Lebenshaltungskosten in Israel regelrecht Zuflucht in Berlin suchen. In einem großen Artikel in der Süddeutschen Zeitung im Oktober 2014 wurde die Zahl von 30000 (!) Israelis genannt. Die Reaktion in den israelischen Medien auf diese „Landflucht“ fiel entsprechend heftig und negativ aus. Hever weist darauf hin, dass der soziale Zusammenhalt in der israelischen Gesellschaft , in der „nationale und ethnische Unterscheidungen wichtiger sind als Klassenidentität, sehr schwach ausgeprägt“ (S. 124) ist. Zudem werden die Ursachen der zunehmenden Verarmung großer Teile der israelischen Gesellschaft nicht mit den Folgen der Besatzung in Verbindung gebracht, was besonders deutlich während der „Zelt-Demonstrationen“ in Tel Aviv und anderen Großstädten im Sommer 2011 deutlich wurde.

Eine Rezension muss sich aus unterschiedlichen Gründen auf ausgewählte Abschnitte beschränken. Bei Shir Hevers fundierter Analyse fällt das nicht leicht; weitere wichtige Kapitel können daher nur stichwortartig genannt werden. So schreibt er über Trends der israelischen Wirtschaft, stellt eine Fallstudie über die Auswirkungen der Mauer vor, geht in einem theoretisch fundierten Kapitel über die Implikationen der Besatzung ein und nennt sein Schlusskapitel eine „Theoretische Analyse und Zweistaatlichkeit“.

Shir Hever hat in vielen Gesprächen mit dem Rezensenten die globale Bedeutung des israelisch-palästinensischen Konfliktes betont: als „Laboratorium, wo ziviler Widerstand der hoch entwickelten Maschinerie der Kontrolle gegenübersteht und wo Menschenmassen aufragenden Betonmauern gegenüberstehen. Der Ausgang dieses Konfliktes wird nicht nur die Zukunft dieser Region, sondern die Gestalt zukünftiger Konflikte und Besatzungen in der ganzen Welt bestimmen.“ (S. 236)

Die Lektüre der „Politischen Ökonomie der israelischen Besatzung“ ist für jeden, der intensiver nach den Gründen für die seit Jahrzehnten andauernde Besatzung sucht, unabdingbar. Die hervorragende Übersetzung durch die beiden Aktivistinnen Heidi Niggemann und Angelica Seyfried erleichtert den Zugang zu diesem schwierigen, aber umso wichtigeren  Thema. Hever schreibt dazu: „Betrachtet man, wie einerseits die Besatzungsbedingungen durch massive internationale Finanzmittel beeinflusst werden oder wie sich das tägliche Leben in Israel/Palästina durch die Trennmauer verändert, dann wird sichtbar, dass wirtschaftliche Bestrebungen nicht weniger Auswirkungen auf die Natur des Konflikts haben, als militärische Operationen. Nur durch das Verständnis dieser Formen von wirtschaftlichen Beziehungen lässt sich der Konflikt überhaupt entwirren.“

Und am Schluss heißt es: „Dieses Buch wurde mit dem klaren Ziel geschrieben, der Propaganda entgegenzuwirken, die von den israelischen und pro-israelischen Regierungen und Medien verbreitet wird. Es erfüllt seinen Sinn, wenn es einen kleinen Beitrag dazu leistet: Das Ende der Besatzung, des jüdischen Staates und der Gewalt und anstelle des bestehenden Systems der Repression die Schaffung eines demokratischen Staates, in dem alle, die in dem derzeit von Israel kontrollierten Gebiet leben, repräsentiert werden.“ (S. 236) 

 
 

 

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