Jahresbrief
2004
aus Palästina Von
Frau Dr. Sumaya Farhat-Naser-
Anfang Dezember 2004
Liebe
Freunde,
Wie am Ende
jedes Jahres schreibe ich Euch. Ich möchte herzlich danken für Eure
Unterstützung und Begleitung, für das Mittragen meiner und unserer Sorgen,
für die Mitsorge für einen wahren Frieden für die Menschen in Israel und
Palästina. Ohne diese Unterstützung wäre meine Arbeit nicht möglich. Ich
bekomme Mut und Kraft, und mit mir alle, die mitmachen und denselben Weg
gehen.
Das Jahr 2004
war wieder sehr schwer. Ein wichtiges Ereignis war das Sterben von Yasser
Arafat. Ich nehme Stellung dazu und berichte dann über Persönliches und
über meine Arbeit:
Yasser
Arafat- Ein Leben für Palästina
Die ganze
Welt stand in Sorge, beobachtete, begleitete wartend darauf, was wohl mit
und nach Arafat wird. Ein halbes Jahrhundert repräsentierte er Palästina
und bestimmte den Weg. Er ist Symbol für Identität und Heimat, für Treue,
Hin- und Opfergabe geworden. Sein Ziel war das Ziel seines Volkes: ein
freies Palästina. Im Herzen und in der Seele, auf den Schultern und in
den Händen trug er die Pflicht der Befreiung und Unabhängigkeit. Die
Katastrophe Palästinas im Jahr 1948 resultierte in Heimatlosigkeit,
Vertreibung und Zerstreuung der Palästinenser in die ganze Welt. Die
Besatzung im Jahr 1967 brachte weitere Vertreibung und Verelendung. Durch
Unterdrückung, Demütigung, Folterung und Entrechtung sollte der Traum der
Palästinenser gelöscht werden. Arafat hat diesen Traum wach erhalten. Die
palästinensische nationale Identität hat sich formiert und kristallisiert
und internationale Anerkennung erlangt.
Er war ein
Freiheits- und Widerstandskämpfer, der hartnäckig und beharrlich sein Ziel
anstrebte. Er bewegte sich wie ein Akrobat, handelte teils im Einklang
der politischen Systeme, die ihn und die Palästinenser duldeten, aber wenn
nötig, hat er rebelliert und Widerstand geleistet. Ein Künstler im
Überleben, ein Führer, der seinem Volk Würde und Mut vermittelte. Er war
es, der die Anerkennung Israels erreichte (schon 1988) und sein Volk
überzeugte, dass der Friede mit Israel gemacht werden kann und werden
muss. Er ist Realist geworden.
An diese
Symbolfigur klammerte man sich, weil die Palästinenser viel zu viel
verloren haben, nicht auch das noch! Sie halten an ihm fest, auch wenn
er so viele Fehler machte, und selten bereit war zuzuhören, wenige andere
mitentscheiden liess. Er wollte allein alles bewältigen, alles
kontrollieren. Zu viele Enttäuschungen und Verrat hat er erlebt. Als
Patriarch war er der Vater und der Bruder, der Älteste und Bestimmende.
Die patriarchalische Denkweise erschwert das Eingeständnis, dass der
Patriarch sich irren kann, und wenn schon, dann muss dennoch die Loyalität
bleiben.
Wie kein
anderer politischer Führer der Welt, hat Arafat so viele Probleme und
Hindernisse in seinem Leben begegnen und bewältigen müssen. In Jordanien,
Libanon, Syrien, Tunesien und in Palästina schwankte er zwischen geduldet
und verjagt zu sein, und mit ihm die Palästinenser. Der gewählte
Präsident von Palästina musste die letzten 30 Monate seines Lebens in
zwei Zimmern, unter Hausarrest ausharren. Der gewählte Präsident sollte
gelähmt werden und in diesem Zustand für alles Übel verantwortlich gemacht
werden. Er wurde benutzt, damit die israelische Politik Fakten am Boden
schaffen, die Mauer und damit die Landnahme manifestieren und die
Verhandlungen blockieren konnte. Sein Volk sollte ihn disqualifizieren
und beseitigen, um mit ihm den eigenen Traum zu zerstören. Je mehr das
beabsichtigt wurde, umso mehr erwachte die Solidarität und das Mitgefühl,
umso mehr empfanden wir, dass der Beistand zu Arafat ein Teil unseres
Kampfes für Selbstbestimmung ist. Wir allein entscheiden über unsere
politische Gegenwart und Zukunft, und wollen es durch demokratische
Prozesse schaffen. Arafat sollte beseitigt werden, womöglich durch seine
eigenen Leute. Das wäre die Rache. Aber je mehr die israelische Führung
das anstrebte, desto mehr gewann er an Beistand, und politisch gerieten
wir in ein Dilemma. Die Sicherheitssysteme waren vom Militär zerstört,
normales Regieren und Kontrollieren war nur begrenzt möglich. Das Leiden
durchzieht alle Lebensbereiche: Wirtschaft, Gesundheitswesen und
Erziehung, behindert und blockiert den Alltag durch Sperren, Mauern und
Militärverordnungen, die jeden Aspekt des täglichen Lebens destruktiv
bestimmen. Wir fühlen uns wie erwürgt.
Seit Jahren
sehnen sich die Palästinenser nach positiver Entwicklung. Denn sie sahen
die Fehler, verabscheuten das Verhalten vieler politisch Verantwortlicher,
erkannten Korruption und wollten gesunden, politischen Aufbau. Die
geltende Rechtsstruktur ist ein Gemisch von Revolution,
Besatzungsbestimmungen und erste Anfänge von Gesetzen und Rechtwesen des
Staates Palästina. Eindeutige Herrschaft des Gesetzes gibt es nicht. Das
erschwert effektive Reformen, erst recht wenn der Widerstand auf grausame
Weise sich steigert und schwer zu kontrollieren ist und wenn Raketen und
Panzer der Besatzung, gezielte und ungezielte Tötung, Hauszerstörungen
tausender Familien, systematisch durchgeführt werden. Wo gibt es das in
der Welt, dass die herrschende Macht die Häuser der Bürger einfach
auslöscht?
Die
Palästinenser haben sehr viel verloren, nicht auch noch Arafat, wollten
sie verlieren. Sein Tod hat deswegen Trauer und Bitterkeit wie auch
Gefühle des Verlustes und des Verloreneins, so übermässig aufkommen
lassen.
Zugleich
atmeten die Menschen auf, denn sie sehnen sich nach einer neuen Ära. Eine
junge Palästinensische Führung, die den Herausforderungen gewachsen ist,
wäre am Platz. Sie muss den Zugang bekommen, um der Enttäuschungen der
Menschen durch Aufrichtigkeit und Durchsichtigkeit beim Regieren
entgegenzuwirken. Die alte Führergeneration als Übergang ist
unvermeidlich, denn sie weiss, was verhandelt wurde, wo die Blockaden
sind, hat Verhandlungserfahrung gesammelt. Auch kennt sie das
Versteckte, das enthüllt werden müsste. Das trifft vor allem die Finanzen.
Die jüngere politische Führung, von allen politischen Parteien, sass und
sitzt immer noch in israelischen Gefängnissen. Miteinander diskutieren
und verhandeln haben sie gelernt. Diese Erfahrung ist von grossem Wert,
um eine interne Einigung erzielen und die Gesellschaft retten zu können
.Sie ist aufrichtig und geniesst das Vertrauen der Menschen. Die
Freilassung der politischen Gefangenen ist die Notwendigkeit für das
Gelingen einer positiven Änderung. Sie müssen die politische Zukunft
mitgestalten, weil sie die Bevölkerung überzeugen und Hoffnung beleben
könnten. Sie müssen bei den Wahlen am 9.Januar 2005 eingeschlossen sein.
Ferner muss
das Sicherheitssystem funktionieren dürfen. Die Polizisten müssen Uniform
und Waffen tragen dürfen, damit sie ihre Autorität ausüben können und
so Kontrolle und Sicherheit ermöglichen. Wir brauchen Schutz vor
Militärangriffen, und wir brauchen freie Bewegung. Die Sperren müssen
aufgehoben werden, und Bewegungsfreiheit muss gesichert sein, damit der
Alltag wieder normal wird.
Eine neue Ära beginnt, und es gibt keinen Vorwand mehr, das
Ende der Besatzung und Schaffung des Palästina-Staates entsprechend der
Internationalen Legitimität und den unterschrieben Verträge zu
verwirklichen.
In meiner Familie
haben uns gute Ereignisse beglückt:
Mein Sohn Anis kam nach Abschluss des Studiums in Innsbruck
heim. Er begann das Trainingsjahr in Ramallahs Kliniken und Hospital.
Ganz Birzeit und Umgebung freuten sich mit uns. Sie kamen gratulieren mit
Blumen und Geschenken und wollten sich Hoffnung schaffen, dass ihre
gebildeten Söhne und Töchter eines Tages zurückkommen würden.Die Probleme
des sich wieder Einlebens sind enorm, doch er bewältigt sie Stück für
Stück. Die Kraft dafür findet er in der tiefen Liebe zum Land und zu den
Menschen und in der Verantwortung, die er empfindet. Welch ein Segen für
uns alle.
Im Sommer
kamen viele Verwandte aus dem Ausland. Täglich kochten wir für 20
Personen. Wir haben viel berichtet, ausgetauscht, gelacht, und wir
feierten gemeinsam die 18 Hochzeiten im Ort. Es war wie ein Dauerfestival.
Wir müssen die Kunst aufbringen, für Momente das Schwere auszublenden um
das Schöne und Erfreuliche bewusst zu erkennen und wahrzunehmen. Nur so
können wir die schwere Zeit verkraften.
Wir sind froh und dankbar, weil der Bräutigam meiner
Tochter nach zwei Jahre Haft entlassen wurde. Er war im Wüstengefängnis im
Negev. Es war eine Nerven - Säge für uns alle: drei Monate hoffen, dann
wurde doch die Haftzeit verlängert um weitere drei Monate, ohne Urteil
oder Anklage. Er muss sich nun medizinisch behandeln lassen, denn er hat
viele Leiden: Rücken-, Kopf- und Gelenkschmerzen, Schlaflosigkeit,
Müdigkeit, Kraftlosigkeit und Ängste. Er muss sich in der Gesellschaft
wieder finden. Er sucht immer noch nach Arbeit, und die ist schwer zu
bekommen. Erst nach etwas psychischer Erholung kann die Hochzeit im
Sommer 05 gefeiert werden. Darauf freuen wir uns.
Bildung und
Friedensarbeit:
Meine Arbeit
mit den Jugendlichen und Frauen in Palästina macht viel Freude, und gibt
Kraft.
Wir haben zwei Monate Ferien, man kann sich aber nicht bewegen, kennt
weder Urlaub noch Ausflug. Wir lernen zu überleben und miteinander zu
leben. Wir lernen unsere Probleme anzusprechen und nach Lösungen zu
suchen, und trotz dem das Leben zu lieben, unsere Menschlichkeit zu
bewahren und zu würdigen. Wir lernen voll zu trauern, aber auch von
Herzen zu lachen, denn wir wollen Verantwortung tragen können. Das ist die
Basis für den eigenen inneren
Frieden, der den Frieden mit den anderen ermöglicht. Mehr als 60
Begegnungen mit sechs Gruppen haben wir gehalten während des Jahres. Es
war sehr intensiv und anstrengend. Aber das Mitarbeiten der Jugend, ihr
Ernst und ihre Beharrlichkeit an einen Strang der Hoffnung sich
anzuklammern, ihre Suche nach Freude und dem normalen Leben, inspirieren
zur Kreativität und zur Kraftschöpfung, schaffen eine Zufriedenheit, die
das Überleben ermöglicht.
In der
Schweiz und in Deutschland habe ich sieben Seminare organisiert und
durchführen können mit dem Thema: Gewaltfreie Kommunikations- und
Dialogfähigkeiten.
Ziel und Erwartungen der
Seminare sind:
·
Selbstbeherrschung, Sachlichkeit und Friedfertigkeit in
Diskussionen.
·
Lernen in der deutschen bzw. der schweizerischen
Gesellschaft den palästinensischen Standpunkt verständlich zu machen
·
Kraft schöpfen durch das Zusammentreffen mit
Gleichgesinnten,
·
befremdliche Diskussionen, Äußerungen besser verstehen
lernen
·
Rüstzeug für die politischen Kämpfe bzw. Dialoge: für ein
Ende der Besatzung, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, zwei Staaten Israel
und Palästina.
·
Klärung, wie mit dem Thema Israel/Palästina bei sich selbst
umzugehen ist
Absicht der
Seminare ist es, Wege aufzuzeigen, uns selber zu verstehen und zu stärken.
Das kann geschehen, indem wir an die schönen Dinge in Palästina denken:
den Duft der Erde, die Olivenbäume, die Blumen, die Wärme und Liebe der
Menschen ...und uns darauf besinnen: So wie Gott mich geschaffen hat, bin
ich wunderbar und werde die Schwierigkeiten meistern. Dazu gehört auch
sich einzugestehen, dass wir noch zu lernen haben, um unsere Performance
in der Kommunikation zu verbessern. Dazu gehört außerdem, in sich hinein
zu schauen und darüber zu sprechen, was wir Palästinenser nicht unbedingt
gewohnt sind.
Die
patriarchalisch strukturierten Familien und Gesellschaften, in denen wir
sozialisiert wurden, erzeugen ein Gefühl der Ohnmacht. Wir müssen uns
damit auseinanderzusetzen um uns zu befreien.
Aber wir
haben durchaus Möglichkeiten, unser Bild zu beeinflussen, und wir sind
auch verpflichtet, das zu tun. Dafür sollten wir uns das Rüstzeug für eine
erfolgreiche Kommunikation mit der eigenen Gesellschaft und mit der
deutschen/westlichen Gesellschaft aneignen. Wir müssen ihre Gesellschaft
und Lebensweisen verstehen wollen, das Gute daraus lernen und das für uns
Unpassende stehen lassen.
„Wie
diskutieren wir”? Der Tonfall aber auch die Gestik bei einer
Kommunikation ist zu bedenken. „Wie beruhige ich mich bevor ich reagiere?
Vom Guten in mir ausgehen, das Gute in den anderen ansprechen, mich
beruhigen und dann überlegt Argumente vorbringen, mit der Absicht bei den
Anderen an zu kommen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Das ist nicht immer
einfach bei einem Thema, das die eigene persönliche Geschichte besonders
emotional aufwühlt. Ein solches Verhalten ist aber erlernbar und
trainierbar. Man muss es nur wollen.
Jeder und
jedem möchte ich ermutigen sich zu sagen:
Ich weiss,
dass ich, wir, tief verletzt sind, unsere Herzen mögen gebrochen sein. Ich
trauere und fühle mich schlecht. Das ist normal. Allerdings, muss ich mir
sagen: Und, wie lange noch? Irgendwann ist es genug damit, es hat seinen
Teil erfüllt! Ich muss vorwärts blicken. Ich werde geheilt, weil ich die
Heilung will, weil ich daran arbeiten will. Ich will nicht zerbrechen,
ich werde nicht zerbrechen. Daran glaube ich.
Euch allen,
wünsche ich ein Gutes Neues Jahr 2005.
Dennoch
wollen wir hoffen.
Sumaya
Farhat-Naser
Birzeit-Palästina
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