Ein anderes Rechts- und Demokratieverständnis für
die Palästinenser?
Dr. med. Ibrahim Lada’a
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muss auch dem
palästinensischen Volk zugestanden werden. Dieses Volk, das seit
mehreren Jahrzehnten unter israelischer Besatzung lebt, hat seine
exekutiven und legislativen Vertreter in demokratischer Art und Weise
gewählt. Es wählte diejenigen Vertreter, die es seiner Meinung nach von
der Besatzung befreien und der Korruption der vorherigen Regierung ein
Ende setzen würden.
Die politische Entwicklung in den letzten Tagen
zeigt, dass es ein Irrtum war zu glauben, unter der Besatzung freie
Wahlen durchführen zu können. (siehe meinen Artikel: Palästinensische
Hochzeit: Stellungnahme zu den palästinensischen Wahlen.) Die von den
Palästinensern im Januar 2006 gewählte Regierung bekam nicht einmal die
Chance zu regieren, sie wurde von der gesamten westlichen Welt
boykottiert. Sogar die EU nützte ihre finanzielle Unterstützung als
Druckmittel aus. Als eine der Folgen konnten die Gehälter von 150.000
Beamten, Polizisten und Lehrern nicht ausbezahlt werden. Die Mehrheit
dieser Beamten wurde in der Ära Arafats eingestellt, d.h. sie gehörten
nicht der Hamas sondern der Fatah Bewegung an.
Die Menschen in Palästina fragen sich: Was will der
Westen von uns, was versteht er unter Terror? Was für eine Form von
Demokratie stellt er sich für die Palästinenser und in den anderen
Ländern des Nahen Ostens vor? Ist der Begriff Besatzung ganz aus dem
Vokabular der westlichen Entscheidungsträger verschwunden? Es ist
unglaublich und schändlich, dass man von den Führungsriegen Europas bis
jetzt keinerlei Proteststimmen gehört hat, nachdem Israel in einer
Nacht- und Nebelaktion sieben Minister und 20
Abgeordnete gleichzeitig aus Ramallah, Hebron und Qalqiliya entführte.
Dieser Akt der Entführung verdiente nicht mal die Stellungnahme auch nur
einer der westlichen Demokratien. Israel weiß, dass es nach dem Sieg der
islamischen Hamas den Westen immer deutlicher auf seiner Seite hat. Die
israelische Regierung fühlt sich aufgrund der Geschichte des jüdischen
Volkes, die eng mit der Europas verbunden ist, moralisch überlegen und
im Recht gegenüber dem palästinensischen Volk. So hoffte sie, mittels
des Belagerungs- und Aushungerungszustandes die Palästinenser auf die
Straße zu treiben und zum Sturz der demokratisch gewählten
Hamasregierung zu führen. Dies geschah jedoch nicht. Also setzte sie auf
Bürgerkrieg zwischen den palästinensischen Fraktionen und bewaffnete mit
Hilfe der EU und der USA die Kräfte unter Leitung von Präsidenten Mahmud
Abbas mit tausend Gewehren und bildete junge palästinensische Männer
aus, um Unruhe zu stiften und Morde auszuführen, damit es zum
Bürgerkrieg zwischen den Palästinensern kommen würde – ähnlich den
Entwicklungen zwischen Sunniten und Schiiten im Irak oder dreißig Jahre
zuvor im Libanon. Zur Enttäuschung Israels und des Westens jedoch
schlossen die Palästinenser ihre Reihen und einigten sich auf eine
gemeinsame Erklärung.
Diese wurde von palästinensischen Gefangenen
entworfen und enthielt mehrere Punkte, die zur nationalen Einheit
aufriefen. Diese Erklärung wurde von allen politischen Strömungen
akzeptiert, einschließlich der Hamas und der Fatah. In dieser Erklärung
ist die Zweistaatenlösung laut UN-Sicherheitsratsresolutionen 242 und
338 verankert, dies bedeutet eine indirekte Anerkennung Israels durch
die Hamas nach nicht einmal 3 Monaten Regierungszeit. Ich betrachte das
als einen großen Schritt in Richtung Frieden. Im Moment dieses
Friedenszeichens, auf Seiten der Palästinenser, befiehlt Premierminister
Ehud Olmert seinen Truppen in den Gazastreifen einzumarschieren, denn
der Friede, der ein Stück näher gerückt schien, hatte die israelischen
Politiker in Verlegenheit gebracht. Somit entsandte Olmert seine Armee
nicht um den entführten Soldaten zu befreien, sondern um die gewählte
Hamasregierung zu stürzen.
Der Gazastreifen ist eines der am dichtesten
bewohnten Gebiete der Welt. Die Mehrheit der Bewohner lebt seit 1948 in
Flüchtlingslagern, wo geballte Armut und Arbeitslosigkeit das Bild des
Gazastreifens prägen. Sie flüchteten vor zionistischen
Terrororganisationen, – Vorläufer der jetzigen Israelischen Armee –
deren Anführer zu Regierungschefs, Staatspräsidenten und sogar
Friedensnobelpreisträgern wurden.
Für Israel war und ist der Gazastreifen ein Dorn im
Auge und im besten Falle ein Reservat für billige Arbeitskräfte. In
mehreren Jahrzehnten ist es Israel nicht gelungen, die Menschen im
Gazastreifen von ihren angeblich guten Absichten zu überzeugen, denn
Israel hat nie verstanden, dass die Waffe gegen Gedankenfreiheit noch
nicht erfunden wurde. Israel kontrolliert das Wasser, indem es den
Arabern verbietet, so tiefe Brunnen zu bohren wie die Iraelis.
Gleichzeitig bohrte Israel Brunnen am Fuße der palästinensischen Berge
in der Westbank, wo sich die größten Wasserreservoire befinden, und
verhinderte somit, dass das Grundwasser in den Gazastreifen gelangte,
wodurch das Grundwasser im Gazastreifen durch Zufluss von salzigem
Meerwasser ungenießbar wurde.
Israel verhinderte die weitere Entwicklung der
Elektrizitätsversorgung in der Westbank und im Gazastreifen, obwohl
diese von privaten Gesellschaften betrieben wird. Somit blieb die
Stromversorgung in israelischer Hand. Das einzige Elektrizitätswerk, das
vor kurzem von palästinensischen und amerikanischen Privatinvestoren im
Gazastreifen gebaut wurde, wurde von der israelischen Armee bombardiert.
Israel kontrolliert alle Zugänge zum Gazastreifen ob
zu Land oder zur See. Sogar die einzige Luftverbindung, der mit Hilfe
von EU-Geldern erbaute Flughafen von Gaza, wurde mehrfach von Israel
zerstört. Bei der aktuellen Militäraktion dient dieser Flughafen als
militärischer Stützpunkt Israels. Rückblickend betrachtet kann man den
Rückzug Israels aus dem Gazastreifen somit nur als eine große Lüge
bezeichnen. Die Infrastruktur eines Volkes zu zerstören und es kollektiv
zu bestrafen mit der Behauptung gegen Terroristen zu kämpfen ist Terror
per se.
Es geht nicht um den einen entführten Soldaten, es
geht vielmehr um das Bild, das sich Israel von seiner Armee bzw. von
seinen Soldaten gemacht hat. Der Mythos von der „unbesiegbaren Armee"
und der „Reinheit der Waffen " erzeugen ein Bild des israelischen
Soldaten als „Supermenschen". Es ist jedoch die enorme
militär-technische Überlegenheit, nicht der Mensch als solcher, die
dieses Bild des israelischen Soldaten in der Welt erzeugt hat. Dies ist
das Image, das die israelischen Eliten ihrem Volk und der westlichen
Welt präsentieren wollen – in diesem Lichte lässt sich auch besser
verstehen, warum es zu dieser alle Proportionalität sprengenden
militärischen Aktion als Antwort auf einen gefangenen israelischen
Soldaten kommt. Die Auswirkungen dieser militärischen Aktion sind im
weiten viel größer als es der Fall ist, wenn ein Palästinenser sich in
einem israelischen Bus oder Cafe sprengt und mehrere Zivilisten tötet.
Diese Form von Zivilterror passt in das Konzept der israelischen
Politiker, da es die Armee nicht direkt betrifft. In dem ständig
aufrechterhaltenen Zustand von Angst und Unsicherheit haben Sie ihr Volk
im Griff. Als Retter tritt die überlegene Armee auf die Bildfläche.
Kommt es jedoch zu der Entführung eines Soldaten und möglicherweise
sogar zu einem Gefangenenaustausch wäre das reine Bild von der Armee
zerstört. Dies würde zu einem politischen Erdbeben in der israelischen
Gesellschaft führen, in der ein Soldatenleben mehr wert ist als ein
Zivilistenleben. Die Welt wird endlich anerkennen müssen, dass es sich
hier um einen Befreiungskampf handelt, um Widerstandsgruppen, die gegen
eine Besatzungsarmee kämpfen. Dieses Bild von Besatzer und dem
Besetzten, das von Israel seit 40 Jahren mit allen Mitteln der
Propaganda unterdrückt wird und bereits so erfolgreich ist, dass manche
Menschen im Westen nicht einmal mehr wissen, wer nun wen besetzt, wäre
revidiert. Israel hat diese Entwicklung bereits einmal erkennen müssen
im Libanon. Nach hohen Verlusten in den eigenen Reihen und Protesten der
eigenen Bevölkerung kam es im Sommer 2000 zum Rückzug aus den besetzten
Gebieten des Libanons.
Der israelische Soldat wurde von Widerstandskämpfern
gefangen genommen, nachdem diese einen 800 Meter langen Tunnel gegraben
hatten, um zu einem israelischen Armeecheckpoint zu gelangen. Das dort
stationierte israelische Bataillon hatte einen Tag zuvor ein
palästinensisches Dorf überfallen und zwei junge Palästinenser entführt
mit der Behauptung, sie planten einen Terrorakt. Im Gefecht waren zwei
israelische Soldaten und zwei Palästinenser gefallen. Der israelische
Soldat wurde aus seinem Panzer herausgeholt und als Kriegsgefangener
mitgenommen. Die israelische Armeeführung erfuhr von dem Zwischenfall
erst nach ca. 70 Minuten. Dieser Angriff von Besetzten gegen die
Besatzungsarmee wurde von der gesamten westlichen Welt nur im Hinblick
auf den entführten Soldaten beachtet, sogar der Papst und Kofi Annan
verlangten die Freilassung des israelischen Soldaten. Über die mehr als
12.000 palästinensischen Gefangenen, darunter 400 Kinder, 150 Frauen und
7 Säuglinge wurde kein Wort verloren.
Es ist nicht hilfreich, wenn der Widerstandswille
eines unterdrückten Volkes sabotiert wird und die Sache nicht beim Namen
genannt wird. Es darf mit den Leiden des palästinensischen Volkes nicht
so leichtfertig umgegangen werden. Man sollte sich hüten,
palästinensische Aktionen mit dem Terror eines Osama Bin Laden zu
vergleichen. Es ist sehr naiv, diesen Kampf gegen Besatzung, als „Kampf
der Kulturen" oder als Religionskrieg darzustellen. Hier geht es um ein
Volk, das seit mehreren Jahrzehnten für seine Befreiung und
Selbstbestimmung kämpft – es wäre absurd zu glauben die Palästinenser
würden sich den Strick eigenhändig um den Hals binden. Europa darf nicht
weiter schweigen. Es muss die Werte, für die es seit Jahrhunderten
gekämpft hat und für die es sich einsetzt, auch den anderen Völkern
zugestehen.
Dr. Ibrahim K. Lada'a, 4. Juli 2006