Leere Gesten helfen Abbas
nicht
Ghassan
Khatib, Vizepräsident der Universität in Bir Zeit ( bitterlemon.org)
25.8.08
Israels Entscheidung
198 palästinensische Gefangene frei zu lassen als „Geste des guten
Willens“ gegenüber Präsident Mahmoud Abbas, erfolgte nicht lange nach
dem Austausch von Gefangenen und Leichen, (einschließlich vieler
Palästinenser) zwischen Israel und der Hisbollah und während
fortlaufender Verhandlungen über einen möglichen Gefangenenaustausch
zwischen Israel und der Hamas.
Auf diese Weise
richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf das Problem der
palästinensischen Gefangenen, ein besonders sensibles Thema in der
palästinensischen Gesellschaft.
Um einen Eindruck von
der Größe des Problems zu geben, kann es sinnvoll sein, erst ein paar
Fakten und Zahlen zu geben. Im Augenblick schmachten zwischen 10 000 und
11 000 palästinensische Gefangene in verschiedenen israelischen
Gefängnissen. Dies ist eine Zahl, die seit der israelischen Besatzung
vor 41 Jahren etwa gleichbleibend hoch ist. Die vollständige Zahl von
Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen einsaß, wird auf 700
000 geschätzt, etwa ein Fünftel der augenblicklichen Bevölkerung der
besetzten Gebiete.
Unter der
augenblicklichen Menge von Gefangenen sind 326 Minderjährige, 94
Frauen, 47 sind gewählte Parlamentarier und 1150 sind
Administrativ-Häftlinge, die ohne Anklage und Gerichtsurteil
festgehalten werden. Im Gegensatz zum Eindruck, den die israelische
Propaganda liefert, ist der größte Teil der palästinensischen Gefangenen
nicht wegen Gewalttaten im Gefängnis, sondern wegen politischer
Tätigkeit.
Die israelische
Militärorder 101 hat festgesetzt, dass es verboten sei, Protestmärsche
oder –Treffen mit zehn oder mehr Personen – ohne Genehmigung des
Militärkommandeur - abzuhalten, wo es um politische Probleme geht.
Dieselbe Order verbietet die Verteilung politischer Artikel und Bilder
„mit politischem Hintergrund“. Die Militärorder 938 betrachtet „die
Unterstützung einer feindlichen Organisation durch das Halten einer
Fahne oder dem Zuhören eines nationalen Liedes“ für eine feindliche
Aktion. Dies sind nur einige der allgemeineren Vergehen, wegen der
Palästinenser angeklagt werden.
Die
Gefängnisbedingungen sind schrecklich, und Folter ist üblich. Ersteres
wurde in einem UN-Sonder-Bericht 2005 als hart (harsh)
beschrieben. Nach diesem „leben die Gefangenen in überfüllten, schlecht
belüfteten Zellen, die sie im Allgemeinen täglich nur für 2 Stunden
verlassen.“ Derselbe Bericht bemerkt weiter, dass die „Beschuldigungen
von Folter und unmenschlicher Behandlung von Verhafteten und Gefangenen
weitergeht. Solche Folter schließt Schlagen, das Fesseln in
schmerzvollen Positionen ein und Tritte, langes Zubinden der Augen,
Verweigerung medizinischer Versorgung, dem Aussetzen extremer
Temperaturen und unzureichende Versorgung mit Nahrung und Wasser.“
Die Verwandten der
Gefangenen leiden auf verschiedene Weise: zum einen wissen sie um die
unmenschlichen Bedingungen, unter denen ihre Angehörigen im Gefängnis
leben. Israel verletzt eine direkte Auflage des Völkerrechts, indem es
die meisten Gefangenen in Gefängnissen innerhalb Israels hält und
Palästinensern, auch den Verwandten von Gefangenen, es verboten ist,
Israel zu betreten. Auf diese Weise begrenzt Israel die Möglichkeiten
für Familien, ihre gefangenen Verwandten zu besuchen dramatisch.
Gewöhnlich müssen sie auf das Internationale Komitee des Roten Kreuzes
warten, um Genehmigungen für solche Besuche zu erhalten; so ist sicher,
dass nicht mehr als ein bis zwei Besuche im Jahr möglich sind.
Die israelischen
Gefängnisse sind mittlerweile auch die Orte, in denen die
augenblicklichen palästinensischen Aktivisten und Führer ihre politische
Ausbildung erhalten. Die Gefangenschaft wird als Ehre für Palästinenser
angesehen. Sie ist zum einen eine Quelle des Stolzes und der
Glaubwürdigkeit als auch eine der Qual. Sie hat sich als effektiver Weg
erwiesen, die nächsten Generationen in den Kampf gegen die Besatzung
einzubinden. Tatsächlich stehen die meisten jungen gefangenen
Palästinenser unter dem Verdacht, sich politisch zu betätigen. Die
Ungerechtigkeit und die Bedingungen ihrer Haft machen solch ein
Engagement unvermeidbar.
Wenn man an all dieses
denkt, ist die Entlassung von 198 Gefangenen ohne Bedeutung und
belanglos, nicht nur was die Zahl betrifft, sondern auch praktisch.
Israel verhaftet und entlässt weiter 20-30 Gefangene pro Tag. Israel
würde auf jeden Fall diese Anzahl von Gefangenen in den nächsten Wochen
entlassen und verhaftet haben.
Der Versuch
israelischer Politiker und leider auch einiger Palästinenser, diese
Entlassung als eine politische Errungenschaft der palästinensischen
Führung darzustellen, ist eine erbärmliche Irreführung. Von Präsident
Abbas als politischem Führer erwartet man, dass er das politische
Problem löst und die Besatzung zu einem Ende bringt und auf diese Weise
auch dem ganzen Phänomen der palästinensischen Gefangenen ein Ende
setzt. Man erwartet von ihm, dass er sich nicht mit so einer kleinen
Zahl von Gefangenenentlassungen zufrieden gibt.
Tatsächlich, kann
diese „Geste des guten Willens“ ein Schuss nach hinten sein. Vor der
Errichtung der Palästinensischen Behörde, die angeblich die politische
Vertretung des palästinensischen Volkes sein soll, pflegten Anwälte und
von Israel bestimmte palästinensische Bürgermeister aus verschiedenen
Städten und Dörfern unter Besatzung bei bestimmten Gelegenheiten wie
z.B. dem bevorstehenden Ramadan um die Entlassung von Gefangenen zu
ersuchen. Entlassungen wurden dann genehmigt, um ihnen einige
Glaubwürdigkeit bei ihrem Volk zu geben. Es ist bedauerlich, dass die
palästinensische Führung in solchem Ausmaß geschwächt und von seinem
politischen Einfluss entblößt wurde, dass es nun solch leere Gesten als
Unterstützung benötigt.
(dt. Ellen Rohlfs)
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