Israels gespaltene Seele (Split Psyche)
Carlo Strenger, Haaretz, 2.7.08
Israel fällt auseinander, klagte
Avishai Braverman bei der State of Nation-Konference des
Institutes für nationale Sicherheit. Unser Bildungssystem -
einmal der Stolz Israels – ist ein Sauladen; öffentliche
Korruption nimmt überhand; unsere Universitäten hungern sich zu
Tode; und die Kluft zwischen Armen und Reichen ist schon fast
so schlimm wie in Brasilien.
Bravermans Klagen reflektieren ein
allgemeines Unbehagen, das Israels allgemeine Stimmung
durchzieht. Es ist das 1. Mal in Israels Geschichte, dass
Skepsis über seine Lebensfähigkeit hoch kommt, dass man sich
Sorgen um seine allgemeinen Normen macht und sich fragt, ob es
noch weitere 50 Jahren bestehen wird. Damit beschäftigt sich die
Gesellschaft und die Medien. Dies ist verwirrend: denn Israel
war in der Vergangenheit in größerer äußerer Gefahr und seine
wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen sind so weit
entwickelt wie noch nie.
Warum wird Israel dann nicht mit
seinen sozialen Problemen fertig? Warum bringen die
Korruptionsskandale, die Misere des Bildungssystems oder die
Sackgasse unserer geopolitischen Lage die Leute nicht auf die
Straße? Nach Sabra und Chatila wurde die israelische
Öffentlichkeit plötzlich aktiv: hundert Tausende demonstrierten
auf dem Platz, auf dem Yitzhak Rabin 13 Jahre später ermordet
wurde. Die Kahan-Komission, die unter dem Druck des öffentlichen
Protestes berufen wurde, bestimmte, dass Ariel Sharon nicht
weiter als Verteidigungsminister wirken dürfe.
In der Vergangenheit war sich
Israel seines moralischen Anspruches sicher. Das augenblickliche
Gefühl, dass die israelische Gesellschaft ins Wanken gerät,
reflektiert etwas völlig Neues: Israel ist sich seiner
moralischen Grundwerte nicht mehr sicher.
Die Lähmung reflektiert ein um sich
greifendes Schuldgefühl über Israels Verhalten. Einerseits
bemüht sich Israel sehr, eine dezente, demokratische und
kreative Gesellschaft zu sein. Andrerseits baut es in der
Westbank weiter ein Zweistraßensystem, enteignet weiter Land,
schneidet mit der Mauer Dörfer auseinander, verhindert, das
palästinensische Frauen rechtzeitig zur Entbindung ins nächste
Krankenhaus kommen.
In dieser Hinsicht ähnelt Israels
kollektive Seele einer posttraumatischen gespaltenen
Persönlichkeit. Männer, die durch ein Trauma gingen, was oft mit
ihrem Militärdienst zu tun hat, sind häufig in der Lage, während
des Tages eine Fassade von Anständigkeit aufrecht zu erhalten,
neigen aber zu scheinbar unerklärlichen Ausbrüchen von
häuslicher Gewalt, wenn sie nach Hause kommen.
Israels kollektive Psyche
funktioniert ähnlich: von 1948 – kurz nach dem Holocaust - bis
1967, war Israels Existenz wirklich bedroht ( nach späteren
Aussagen der polit. und milit. Verantwortlichen überhaupt nicht
!! R) . Das Land war nur von seinem militärischen Tapferkeit
abhängig und hatte wenig getreue Verbündete. Es ist, als ob wir
aus dieser Vergangenheit nie aufgewacht seien; es ist, als ob
wir noch immer so handeln, als wäre Israel noch immer eine
kleine isolierte jüdische Gemeinschaft, die von unmittelbarer
Auslöschung bedroht und deshalb jede Tat gerechtfertigt sei,
weil wir unser Leben verteidigen müssten.
Als Gesellschaft und als Land
akzeptiert und respektiert Israel die moralischen Werte der
universalen Menschenrechte. Tief drinnen wissen wir aber, dass
das Verursachen des Leids von Millionen von Palästinensern in
der Westbank auf Grund der Siedlungen tief in den besetzten
Gebieten moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Und doch lassen
wir es zu . Wir gehen unseren Geschäften nach und versuchen
unser Gewissen zu beruhigen, indem wir sagen: „Es gibt keinen
Partner“ oder „ die Straßensperren sind nötig, um Terrorangriffe
zu verhindern“ oder „sieh, was passierte, als wir den
Gazastreifen verließen! Wir gingen und bekamen dafür die
Qassam-Angriffe!“
Während der letzte Punkt eine
gewisse Gültigkeit hat, zeigen die Umfragen, dass die meisten
Israelis glauben, die Siedlungen tief in der Westbank
verringern Israels Sicherheit statt sie zu vergrößern - und die
militärischen Experten stimmen ihnen zu. Und diese Siedlungen
sind der Grund für unglaublich viele Straßensperren und
Landenteignungen, die das Leben der Palästinenser unmöglich
machen und viele Palästinenser glauben lassen, dass Israel nicht
wirklich Frieden will.
Es gibt nur einen Weg, die
allgemeine Malaise zu stoppen und die Angst einzuschränken,
Israel sei auf Treibsand gebaut. Man muss das moralische
Rückgrat, das durch die Spaltung der israelischen Seele
beschädigt wurde, wieder gewinnen. … wir müssen die Fähigkeit
wieder gewinnen, aufrichtig und ernsthaft unser Gewissen prüfen
und wieder verantwortlich für unsere Taten werden.
Ich prophezeie, die Lähmung wird
aufhören, wenn Israel den politischen Willen und Mut aufbringt,
den Siedlern zu sagen: „Wir verstehen zwar euren Schmerz und
eure Wut – wir haben aber einen großen Fehler begangen, als wir
euch in die Westbank sandten. Israels Moral und politisches
Überleben hängt von eurem Heimkommen ab (ins eigentliche
Israel).
Nur wenn wir am Morgen aufwachen
und wissen, dass keine weiteren unentschuldbaren Greuel zu
unterdrücken sind, keine jungen Soldaten zu einem Job geschickt
werden, der ihr Leben beschädigt und keine palästinensischen
Frauen ihr Baby verlieren, weil sie kein Krankenhaus erreichen
können, dann werden wir in der Lage sein, mit den großen
Problemen innerhalb unserer Gesellschaft fertig zu werden.
Die israelische Psyche muss von der
unerträglichen Schuld befreit werden, wenn wir unsere Stabilität
wieder gewinnen wollen und den Glauben an unser Recht, hier zu
sein . Nur dann wird die Kreativität und das Unternehmertum,
dass wir in Israels Geschäften, R&D (?) und blühender Kunstszene
sehen, frei sein, eine Gesellschaft zu schaffen, wie wir sie uns
alle wünschen.
Prof. Carlo Strenger, Philosoph und
Psychoanalyst, lehrt an der Universität Tel Aviv. Er ist
Mitglied des Weltbundes der Scientists’permanent Monitoring
panel über Terrorismus.
(dt. Ellen Rohlfs)
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