Siedlerangriff südlich von Hebron
Von Unmenschlichkeit und Menschlichkeit *
Prof. David Shulman, Taayush, 24.9.05
Zunächst war
es ein wunderbarer Herbsttag in den südlichen Hügeln von Hebron.
Das Licht hat sich verändert, die Hügelketten deutlich von
einander abgehoben. Vögel fliegen nach Süden. Weiße Schwärme von
Tauben wirbelten herum –v on der verkrusteten braunen Oberfläche
voller Dornen, Felsen und Erde direkt in einen saphirblauen
Himmel. Als wir von Weiler zu Weiler gingen und mit der neuen
Landkarte verglichen, die hier schnell zur Realität wird, kam
eine feierliche Illusion von Ruhe über uns; die Hänge sind meist
still, wenn nicht irgendwo ein Hund bellt oder ein Esel schreit.
Wir wissen, dass es eine Illusion ist. Die neue Landkarte wird –
wenn wir ihre Realisierung nicht stoppen können – das Leben
unserer Freunde, der pal. Bauern und Hirten im
Susya-Höhlen-Zeltlager und in den umliegenden Hügeln weiter
zerstören.
Da ist als
erstes die Trennungsmauer, die tief in palästinensisches Land
hineinreicht, um Beit Yatir und eine Reihe neue Siedlungen
(oder sog. illegaler Außenposten) nach Israel „einzugemeinden“.
Unser alter Freund Muhammad Nwajeh zeigt auf einen weiten Bogen
zerklüfteter Hügel und Felder : „All dies ist mein Land, mein
Großvater hat es selbst während der Türkenzeit gekauft; all dies
wird verloren sein.“ Keiner sprich von Entschädigung
palästinensischer Landbesitzer für das, was der Mauerbau an Land
verschlingt. Aber das ist nur der Anfang. Denn die
Regierungsplaner haben kürzlich die Palästinenser davon
informiert, dass Tausende von Dunum Land enteignet werden, um
eine sog. Sicherheitszone um die jüdische Siedlunge Susya zu
schaffen. So werden die sowie so schon armen Familien weiter
getroffen.... Die Verluste sind enorm und äußerst ungerecht und
grausam. Der einzige die Planer führende Zweck, ist,
Landreserven für die zukünftige Erweiterung der jüdischen
Siedlung wegzunehmen. Hier besteht noch für eine Aktion
Hoffnung: der Oberste Gerichtshof kann die Regierung noch davon
abbringen, wenn sich unsere Freunde effektiv für eine legale
Schlacht organisieren könnten.
Wir, sieben
Taayush-Leute ( israelisch-arab. Gruppe) sind hier, um ihnen zu
helfen. Wir haben die letzten Landkarten, die Grenzen sind den
vor zwei Wochen mitgeteilten Landkonfiszierungen angeglichen.
Wir gehen in der Nachmittagssonne über die Hügel, vergleichen
die Karte mit dem Feld, photographieren, protokollieren, lernen
das Land kennen. In jedem der Weiler, wo ein oder zwei Familien
mit ihren Kindern, Schafen und Ziegen leben, werden wir herzlich
begrüßt; es wird uns kaltes Wasser oder Tee angeboten. Jede
Familie hat ihre eigene Geschichte zu erzählen. Auf einer
Hügelkuppe begegnen wir dem Hirten, der vor drei Wochen von
Siedlern angegriffen wurde, dann gleich von der Armee belastet
wurde – in gut Orwellschem Stil – er hätte seine Angreifer
angegriffen: er verbrachte 3 Wochen im Gefängnis, und sein Fall
ist immer noch anhängig.
Es besteht
die Möglichkeit, dass er eine lange Gefängnisstrafe erhält. Er
kann kein Hebräisch und kann dem Gerichtsprozess nicht folgen;
wir versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass er seine eigene
Anklage gegen die Siedler, die wahren Täter, vorbringt. Aber er
ist unsicher und hat Angst vor weiterem Kontakt mit den Soldaten
und der Zivilverwaltung. Das ist die Situation hier überall in
diesen Hügeln: die Leute sind erschöpft, gequält, traumatisiert;
sie verlieren gegenüber den Siedlern, vor isr. Gerichtshöfen.
Sie sind verzweifelt. MN hat 10 Jahre seines Lebens damit
verbracht, die Höhlenbewohner zu aktivieren – es ist ein sehr
schwieriges Geschäft. Und zehn mal war er im Gefängnis.
MN ist ein
guter und sanftmütiger Mensch – und er weiß auch, was
Verzweiflung ist. Das System, die Besatzung tötet ihn. Ich
versuche hoffnungsvoll zu sein: vielleicht sind wir in der Lage,
den größten Teil des neu konfiszierten Landes zu retten; und
eines Tages wird Frieden sein – die meisten Israelis wollen
Frieden. „Was heißt es, Frieden zu wollen?“ fragt er mich mit
Bitterkeit. „Es bedeutet nichts, gar nichts, wenn du nicht
bereit bist zu handeln, um Frieden zu machen. Theoretisch will
jeder Frieden. Wo sind die Hunderttausenden Israeli, die auf den
Straßen demonstrieren und ein Ende dieser unendlichen
Verbrechen verlangen? Warum sitzen sie still zu Hause?“
Ja, warum?
Israel hat den Gazastreifen nur verlassen, um das Leben auf der
Westbank noch schlimmer zu machen. Wenn man in Tuvaneh oder
Jinba oder im palästinensischen Susya lebt, weiß man, wie
hilflos man sich fühlt gegenüber ständigen räuberischen
Angriffen, willkürlicher Zerstörung, Schüssen, Schlägen,
Tötungsversuchen und all dies mit Einwilligung dieser herzlosen
Besatzungsmaschine. Wir sind dabei, selbst diese Erfahrung zu
machen. Beim letzten Lager, das wir besuchten, redeten Maya und
ich mit einer palästinensischen Mutter, an deren Füße sich drei
Kinder klammerten. Sie zeigte auf den Brunnen, von dem die
Familie das Wasser holt – etwa 100m entfernt . Gestern hatten
sie Wasser für die Herde aus dem Brunnen gezogen, als Siedler
aus Susya herunterkamen und alles Wasser auf den Boden kippten.
Das geschieht fast täglich. Sie kommen mit Gewehren, sie drohen,
sie schlagen die, die gerade dort sind. Während wir ihr zuhören,
sehen wir, wie eine kleine Gruppe Siedler sich dem Brunnen
nähert. Vielleicht sind es die jungen Siedler, die wir vorhin
durch den Wadi gehen sahen. Vielleicht gehen sie vorbei. So
sieht es wenigstens aus. Wir verabschieden uns von dieser
gutmütigen Frau und machen uns auf den Weg zu Ezras Wagen, der
unterhalb dieses Lagers parkt. Es ist 4 Uhr 30. Wir waren den
ganzen Tag hier unterwegs. Es wird Zeit nach Jerusalem
zurückzukehren.
Ich sitze
schon auf dem Rücksitz des Wagens, als ich die ersten Schreie
höre: die Mutter rennt über den Hang und schwenkt aufgeregt die
Arme und schreit ...Es dauert ein paar Sekunden, bis wir
begriffen haben, was geschehen ist. Ich sah, wie die Siedler mit
einem wahnsinnigen Sprung mitten in das palästinensische Heim
und die Schafhürde springen. Ich hörte sie schreien, und
plötzlich sah ich Raanan, einen unserer Freiwilligen. Es war uns
nicht klar gewesen, dass er noch auf dem Hügel war. Er kämpfte
mit einem großen, schwergewichtigen Siedler, der sein Gesicht
mit einem Hemd verdeckt hatte. Wir sprangen aus dem Wagen und
eilten zu Raanan. Und nun sah ich, wie er offenkundig aus einer
Kopfwunde blutete, sein Hals war voller Blut, auch sein T-Shirt
war mit Blut vollgesogen. Die Siedler hatten gesehen, wie er sie
photographierte, als sie etwas in den palästinensischen Brunnen
warfen. Einer rannte auf ihn zu, warf ihn zu Boden und schlug
auf seinen Kopf mit dem Gewehrkolben seines M-16-Gewehrs und
brachte ihm eine tiefe Wunde bei. ...Meine Erste-Hilfe-Tasche
war in Anats Wagen, einige Meilen hinter den Hügeln. Sie
während der langen, ruhigen Stunden unseres Besuches hier
herumzuschleppen, schien uns überflüssig. Wir hatten uns
vorsichtig von den Ländereien ferngehalten, die die Siedler
blockiert hatten. Wir erwarteten keine Konfrontation. Ich musste
die Behandlung von Raanan improvisieren. Doch das Wichtigste
zuerst. Plötzlich erscheint eine andere Gruppe Siedler, die
meisten in ihren weißen Shabbatkleidern und nähert sich an. Zwei
von ihnen tragen lange Knüppel, andere beginnen, aus der Nähe
Felsbrocken auf uns zu werfen. Esra, der in solchen ihm
bekannten Momenten schnell reagiert, geht mit seinem wild
aussehenden schwarzen Hund direkt auf sie zu. Sie scheinen vor
ihm Angst zu haben. Für uns ist er die einzige Abschreckung, die
wir haben. Nun haben sie uns eingekreist und schlagen uns mit
Schlagstöcken und Fäusten.
Eine
unbeschreibliche Szene spielt sich auf dem felsigen Hang ab.
Raanan ist noch immer auf seinen Füßen und die Kamera in der
Hand – er ist ein begabter Filmdirektor und er will diesen
Angriff aufnehmen; Nissim, auch ein professioneller Filmemacher,
konnte alles bis zu diesem Augenblick aufnehmen und bedient noch
immer heldenhaft die Kamera, als die Siedler versuchen, sie ihm
aus der Hand zu schlagen. Ich versuche, sie von Raanan fern zu
halten. Ich schrei sie an, immer wieder, dass er schwer
verletzt und ich ein Sanitäter sei und dass ich ihn behandeln
muss. Doch das macht keinen Eindruck auf sie. Sie jagen ihn den
Hügel hinauf. Ich erhalte auch einige Schläge, nicht schlimm.
Sie schlagen sich um seine Kamera; er schlägt sie zurück. Einer
der Siedler zerbricht seinen Schlagstock auf Esras Kopf, einem
anderen gelingt es, Nissims Videokamera zu grapschen, die er
noch gegen einen Felsen wirft. Mit unglaublicher
Geistesgegenwart hatte er vorher noch die Kassette
herausgenommen und in seine Hosentasche gesteckt – also haben
wir eine klare Dokumentation, die wir der Polizei zeigen können.
Minuten vergehen, wir kriechen über die Felsen, die Siedler
schnauzen uns an und schlagen. Anat ruft uns zu und erinnert uns
daran, nicht mit Gewalt zu reagieren. Ein wunderbarer Augenblick
des Bewusstsein inmitten von Lärm, Konfusion und Schmerz. Einer
der Siedler grabscht nach meiner Schultertasche und zieht sich
die Karte heraus, die wir während des Tages so sorgfältig
aufgezeichnet und korrigiert haben.
Ein
ständiger Strom von Beschimpfungen, einige sogar recht
originell, fällt über uns: „Ihr fahrt am Schabbat, ihr
photographiert, ihr helft dem Feind der Juden, sie wollen uns
töten und ihr helft ihnen, ihr solltet euch schämen, ihr seid
unsere schlimmsten Feinde, ihr seid schlimmer als sie. Wegen
euch herrscht hier Terror..“
Die
Gesichter der Männer, die Kippas und Bärte tragen, sind
entstellt von ungetrübten Hass....
Der Rest
läuft wie gewohnt: endlich kommen Soldaten, die gar nicht weit
weg waren. Eine Armeepatrouille hatte uns nur 10 Minuten vor dem
Angriff Fragen gestellt. Sie schrieen Orders, trennten uns von
den Siedlern, die sich ein paar Meter weiter weg bei der Quelle
zusammenfanden. ...der Offizier, Tzuri Avivi befiehlt uns, den
Ort zu verlassen, es sei militärisches Sperrgebiet. Wenn wir
noch länger bleiben würden, würde er uns verhaften. Wir zeigten
ihm die Siedler, die uns angegriffen hatten, auch den, der
Raanan verletzt hat. Wir baten darum, ihn zu verhaften. Aber er
gibt sich völlig gleichgültig: „Die interessieren mich nicht“,
sagte er cool. Die Angreifer verschwanden schnell. Wieder eine
verpasste Gelegenheit..
Die Soldaten
waren nur daran interessiert, uns, die lästigen
Friedensaktivisten, los zu werden. Endlich war Zeit, Raanans
Wunde zu reinigen, und einer der Soldaten behandelte
fachgerecht die tiefe Wunde.
Wir machten
uns noch Sorgen um die Palästinenser – was, wenn die Siedler
wieder kommen?
Plötzlich
war auch die Polizei da – und nun erleben wir noch eine
Überraschung. Der erste Offizier ist ruppig, zornig, feindlich.
Auch er denkt nicht daran, trotz unsres Drängens, einen der
verbliebenen Siedler zu verhaften. Aber ein junger Polizist,
anscheinend von höherem Rang, übernimmt die Sache. Er ist genau
das, was man in solch einem Augenblick braucht.
Er ist ein
Mensch. Er versteht . Er ist hier, um uns zu helfen . Er
will alles tun, um die Missetäter zu finden . Er ist ernsthaft,
selbstsicher, irgendwie auch freundlich und zu tiefst human . Er
erzählt uns später, dass die Siedler in Hebron ihren Zorn an ihm
auslassen – sie sehen in einem Mann wie ihn, der ehrlich und
hellwach ist, ihren Feind. Ich weiß nicht, was die israelische
Polizei tat, um solch einen Mann in ihren Rängen zu haben. Ich
werde ihn auf jeden Fall nicht vergessen....
Egal, was
wir für Pläne für Samstagabend hatten, sie waren jetzt
unwichtig. Wir verbrachten die nächsten sechs Stunden auf der
Polizeistation in Hebron, brachten unsere Klagen vor, wurden von
einem Beamten verhört. Es ist kalt, wir sind hungrig und müde,
aber die Gemeinschaft ist gut ...Ich erinnere mich an das Lunch
im Zelt unserer Freunde – war es erst vor ein paar Stunden ...?
Ich erinnere
mich daran, wie Raanan zu unsern Gastgebern sprach, wie ihre
Sache möglichst bald vor Gericht gebracht werden muss und wie er
ihnen versicherte, wir würden ihnen in jedem Stadium behilflich
sein und wie sie sich bei ihm bedankten und er dies beiseite
wische: ihr müsst nicht jemandem danken, der nur seine Pflicht
tut. Nun schmerzt sein Kopf. Er und Esra werden von der
Polizeistation direkt zur Unfallstation gehen. Vorher werden sie
Zeugnis ablegen, bevor die Details vergessen sind. Vielleicht
gibt es eine Chance, dass wenigstens diesmal die Siedler nicht
einfach so davon kommen ...
Nissim, der
nicht das erste Mal sieht, wie seine teure Videokamera in den
südlichen Bergen von Hebron zerstört wurde – lächelt wehmütig :
„Manchmal denke ich, wie langweilig wäre mein Leben, wenn ich
Esra nicht getroffen hätte.“
Irgendwann
nach Mitternacht war ich zu Hause. Alles ist ruhig, aber ich
kann nicht schlafen. Ich werde von dem Gedanken verfolgt, wie
die palästinensische Mutter versucht, ihre Kinder vor den
Plünderern zu schützen. Ich kann ihre Schreie hören. Ich kann
sie nicht trösten. Sie und ihre Familie sind allein in dem
Weiler in der weiten Einsamkeit der Wüste und Hügel.
Nur ihre
jüdischen Nachbarn werden nicht damit aufhören, sie zu
zerstören.
(dt. und
etwas gekürzt: Ellen Rohlfs,* Untertitel von der Übersetzerin)
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