Genozid in
Gaza
Ilan Pappe *; The Eletronic Intifada,
2.9.06
Im
Gazastreifen findet ein Genozid statt. An diesem Morgen, den 2.
September, wurden drei weitere Zivilisten in Gaza getötet und in
Beit Hanoun eine ganze Familie verletzt. Das ist die Morgenernte. Am
Ende des Tages werden viele andere massakriert worden sein. Im
Durchschnitt sterben 8 Palästinenser pro Tag bei israelischen
Angriffen im Gazastreifen. Die meisten sind Kinder. Hunderte werden
verkrüppelt, verletzt und gelähmt. …
Die
israelische Führung weiß nicht mehr, was sie mit dem Gazastreifen
tun soll. Sie hat nur vage Ideen zur Westbank. Die augenblickliche
Regierung hat sich daran gewöhnt, dass die Westbank – nicht wie der
Gazastreifen – ein offener Raum ist, wenigstens auf der östlichen
Seite. Wenn Israel folglich nach dem Programm der Regierung die
Teile annektiert, die es begehrt – die Hälfte der Westbank – und
diese von seiner einheimischen Bevölkerung säubert, könnte sich die
andere Hälfte auf Jordanien stützen, wenigstens für eine Zeit lang,
und würde so Israel nicht zur Last fallen. Dies ist ein Trugschluss
- doch der größte Teil der Juden des Landes stimmte dem begeistert
zu. Solch ein Arrangement kann in der Gaza-Enklave nicht
durchgeführt werden: anders als Jordanien gelang es Ägypten, den
Israelis schon 1948 klar zu machen, dass der Gazastreifen für sie
eine Verpflichtung ist, aber niemals ein Teil Ägyptens sein wird. So
stecken anderthalb Millionen Palästinenser in Israel fest, obgleich
der Streifen geographisch am Rande des Staates liegt – psychologisch
liegt er aber in seiner Mitte.
Die
unmenschlichen Lebensbedingungen im dichtest bevölkerten Teil der
Welt und in einem der ärmsten Gegenden der nördlichen Hemisphäre
lassen es nicht zu, dass sich die Menschen mit der Gefangenschaft
abfinden, die ihnen seit 1967 von Israel auferlegt wurde. Da gab
es eine relativ bessere Periode, in der man in die Westbank fahren
und in Israel arbeiten konnte. Doch diese besseren Zeiten sind
vorbei. Seit 1987 ist die Realität härter. Einige Verbindungen zur
Außenwelt waren solange erlaubt, wie jüdische Siedler im Streifen
lebten. Aber seitdem diese abgezogen worden sind, ist der Streifen
hermetisch abgesperrt. Ironischer Weise sehen die meisten Israelis –
nach kürzlichen Umfragen - den Gazastreifen als einen unabhängigen
palästinensischen Staat an, den Israel großzügig hat entstehen
lassen. Die Führung und besonders das Militär sehen den Gazastreifen
als Gefängnis mit der gefährlichsten Gruppe von Gefangenen, die man
auf die eine oder andere Weise eliminieren sollte.
Die
konventionelle israelische Politik der ethnischen Säuberung, die
1948 erfolgreich gegen die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung
und gegen hunderttausende von Palästinensern in der Westbank
angewandt wurde, ist hier nicht anwendbar. Man kann langsam
Palästinenser aus der Westbank besonders aus dem Raum von
Groß-Jerusalem „transferieren“ – man kann sie aber nicht aus dem
Gazastreifen vertreiben, solange man diesen wie ein
Hochsicherheitsgefängnis abgesperrt hat.
Genau wie
die Operationen der ethnischen Säuberung, so befindet sich auch die
genozidale Politik nicht in einem Vakuum. Schon seit 1948 benötigte
die israelische Armee und Regierung einen Vorwand, um solche Politik
zu praktizieren. Mit der Übernahme Palästinas 1948 (durch die
Zionisten) entstand unvermeidlich lokaler Widerstand, der nun die
Ausführung der ethnischen Säuberungspolitik „erlaubte“, die schon
1930 geplant worden war. 20 Jahre israelischer Besatzung der
Westbank ließ schließlich eine Art Widerstand entstehen. Dieser
verspätete Kampf gegen die Besatzung löste eine neue
Säuberungspolitik aus, die heute in der Westbank durchgeführt wird.
Die Absperrung des Gazastreifens im Sommer 2005, die von einem
„großzügigen“ Rückzug (der Siedler) begleitet wurde, hatte die
Raketenangriffe der Hamas und des Jihad zur Folge und die
Gefangennahme des einen Soldaten. Doch noch vor der Entführung von
Gilad Shalit bombardierte die israelische Armee willkürlich den
Streifen. Seit der Entführung des Soldaten wurde noch mehr getötet
und urde noch mehr getötet und
wurde________________________________________________________________________________________________ zwar systematisch. Es wird zum täglichen Geschäft,
Palästinenser zu töten, hauptsächlich Kinder und das wird nur (wenn
überhaupt) mit wenigen Zeilen auf den inneren Seiten der lokalen
Presse gemeldet.
Die
Hauptschuldigen sind die israelischen Piloten, die jetzt einen
großen Tag haben. Einer von ihnen ist der Generalstabschef Halutz.
Im Libanonkrieg 1982 gab die israelische Luftwaffe an ihre Piloten
Befehle aus, einen Auftrag abzubrechen, wenn innerhalb von 500qm
ihres Militärzieles harmlose Zivilisten wahrgenommen würden. Nicht
dass diese Befehle gehalten wurden, aber der Anspruch für internen
moralischen Konsum war vorhanden. Dies wird bei der israelischen
Luftwaffe „die Libanon-Prozedur“ genannt. Als die Piloten vor
einem Jahr nachfragten, ob die „Libanon-Prozedur“ noch gültig ist,
war die Antwort „nein“. Dieselbe Antwort wurde den Piloten im 2.
Libanonkrieg gegeben.
Der
Libanonkrieg war eine Weile wie eine Nebelwand, die die
Kriegsverbrechen im Gazastreifen unsichtbar machten. Aber die
Politik wütete weiter, auch nach der Entscheidung
des
Waffenstillstandes im Norden. Es sah so aus, als würde die
frustrierte und besiegte israelische Armee noch entschlossener die
Abschussfelder ( killing fields) im Gazastreifen vergrößern. Es
gibt keinen Politiker, der in der Lage oder bereit wäre, den
Generälen Einhalt zu gebieten. Das Morden bis zu 10 Zivilisten/ pro
Tag wird etwa ein paar Tausend Tote am Ende jedes Jahres kosten. Es
ist natürlich ein großer Unterschied, einen Völkermord von einer
Million in einer Aktion zu begehen - allein im Namen des
Holocaustgedenkens gibt es hier für Israel Hemmungen.
Aber wenn
man das Morden verdoppelt, steigt die Zahl zu erschreckenden
Proportionen – und was noch wichtiger ist, man könnte damit am Ende
eine Massenvertreibung aus dem Gazastreifen erzwingen, entweder im
Namen humaner Hilfe, internationaler Interventionen oder auf eigenen
Wunsch des Volkes, um dem Inferno zu entkommen. Doch wenn die
palästinensische Standhaftigkeit weiter die Antwort bleibt – und es
gibt keine Gründe, daran zu zweifeln, dass dies die Reaktion der
Bevölkerung von Gaza ist, dann wird das massive Morden weitergehen
und sich noch verstärken.
Dies hängt
sehr von der internationalen Reaktion ab. Wenn man Israel von jeder
Verantwortlichkeit für die ethnische Säuberung von 1948 frei
spricht, dann wird diese Politik zu einem legitimen Mittel seiner
nationalen Sicherheitsagenda. Wenn die gegenwärtige Eskalation
und Anwendung genozidaler Politik von der Welt toleriert wird, wird
sie sich erweitern und noch drastischer angewendet werden.
Nichts außer
Druck in Form von Sanktionen, Boykott und Divestment wird das Morden
unschuldiger Zivilisten im Gazastreifen beenden. Es gibt nichts, was
wir hier in Israel dagegen tun können. Tapfere Piloten weigern sich
an Operationen teilzunehmen, zwei Journalisten (Gideon Levy , Amira
Hass)– von 150 – hören nicht auf, darüber zu schreiben. Doch das ist
es schon.
Im Namen des
Holocaustgedenkens wollen wir hoffen, dass die Welt es nicht
zulässt, dass der Genozid im Gazastreifen weitergeht.
*Ilan Pappe: Dozent an der Uni
Haifa, Abteilung für Politische Wissenschaften und Direktor des
Emil Touma-Institutes für palästinensische Studien in Haifa.
Seine Bücher : „ The
Making of the Arab-Israeli Conflict (London and New York 1992); The
Israeli/ Palestine Question (London and New York, 1999) A History
of Modern Palestine ( Cambridge, 2003); The Modern Middle East
(London and NY 2005) and Ethnic Cleansing of Palestine ( 2006)
(dt. Ellen Rohlfs)