Lasst unsere Kinder leben.
Von Nurit
Peled-Elhanan.
20. Januar
2007
Bassam
Aramin war 9 Jahre lang deshalb in einem
israelischen Gefängnis, weil er Fatah-Mitglied im
Gebiet von Hebron war und versucht hat, eine Granate
auf einen israelischen Jeep der Armee zu werfen, der
im besetzten Hebron patrouillierte. Am
Mittwochmorgen, hat ein israelischer Soldat seine
neunjährige Tochter Abir in den Kopf geschossen.
Der
Soldat wird nicht eine Stunde im Gefängnis
verbringen. In Israel werden Soldaten dafür dass sie
'AraberInnen' ermorden nicht ins Gefängnis gesteckt.
Niemals. Es spielt keine Rolle, ob die 'AraberInnen'
jung oder alt, reale oder mögliche TerroristInnen,
friedliche DemonstrantInnen oder Steinewerfer sind.
Die Armee hat keine Untersuchung zu Abir Aramins Tod
eingeleitet. Weder die Polizei noch die Gerichte
haben irgendjemanden befragt. Es wird keine
Ermittlung geben. Soweit es die israelischen
Streitkräfte (Israeli Defense Forces - IDF)
betrifft, ist diese Erschießung nicht passiert. Die
offizielle Darstellung der Armee für ihren Tod
lautet, sie wäre durch einen Stein getroffen worden,
den eine/r ihrer KlassenkameradInnen "gegen unsere (Streit)Kräfte"
geworfen habe.
Wir,
die wir in Israel leben, wissen, dass Steine, die
von Zehnjährigen geworfen werden, keine Kugeln durch
den Kopf jagen. Genauso wie wir sehen, dass täglich
israelische Jeeps palästinensische Kinder bei ihrem
Weg in und von der Schule umkreisen und sie mit
Betäubungsbomben, Gummigeschossen sowie Tränengas
'grüßen'.
Eine
Kugel durchdrang Abir Aramins Kopf, als sie dabei
war mit ihrer Schwester in die Schule zu gehen. Ich
habe sie unmittelbar danach im Hadassah Spital
gesehen, wo sie still in einem großen Spitalbett
schlief. Abirs Gesicht war weiß. Ihre großen Augen
waren geschlossen. Da war sie bereits hirntot und
die Ärzte hatten entschieden, "dem Rest von ihr" zu
erlauben zu sterben. Ich habe deutlich gesehen, dass
ihr Kopf von hinten durchschossen worden war.
Ein
junger Student, der Zeuge ihrer Ermordung war,
berichtete Journalisten, dass die israelische
Grenzpolizei, die Teil der IDF ist, zu den Mädchen
hingefahren war, als sie von ihren Schulprüfungen
kamen. "Die Mädchen hatten Angst und sind
weggerannt. Die Grenzpolizei folgte ihnen in die
Richtung, in die sie flüchteten. Abir hatte Angst
und drückte sich zu einem der Geschäfte an der
Straßenseite. Ich stand in ihrer Nähe. Der
Grenzpolizist schoss durch eine Spezialöffnung im
Fenster des Jeeps, die uns sehr nahe war. Abir fiel
zu Boden. Ich sah, dass sie am Kopf blutete."
Abir
Aramin ist tot. Die Ärzte im Hadassah werden ihren
Eltern oder ihren FreundInnen die Todesursache nicht
verraten. Ihre Familie hat eine Autopsie verlangt.
Ihr Vater, Bassam Aramin, ist einer der Gründer der
Kämpfer für Frieden. Mein Sohn, der als israelischer
Soldat in den Besetzten Gebieten war, ist auch
Mitglied. Sie sind Freunde. Bassam hat uns gesagt,
dass er solange nicht ruhen wird, bis ihn der Mörder
seiner Tochter davon überzeugt hat, dass die 9 Jahre
alte Abir sein oder das Leben eines anderen Soldaten
im Jeep bedroht habe. Ich befürchte, dass er nie
eine Chance haben wird auszuruhen.
Abir
Aramin hat sich den toten Kindern im unterirdischen
Königreich angeschlossen, den tausenden anderen
Kindern, die in diesem Land und den Gebieten, die es
besetzt, getötet wurden. Sie wird von meinem eigenen
kleinen Mädchen, Smadar, willkommen geheißen. Smadar
wurde 1997 von einem Selbstmordattentäter getötet. Falls
ihr Mörder überlebt hätte, weiß ich, dass er für
sein Verbrechen ins Gefängnis geschickt and sein
Haus über den übrigen Familienmitgliedern zerstört
worden wäre.
Inzwischen sitze ich mit ihrer Mutter Salwa und
versuche zu sagen: "Wir sind alle Opfer der
Besatzung". Als ich es sage, weiß ich, dass ihre
Hölle schrecklicher ist als meine. Der Mörder meiner
Tochter hatte den 'Anstand' sich selbst zu töten als
er Smadar ermordete. Der Soldat, der Abir tötete,
trinkt vermutlich Bier, spielt Backgammon mit seinen
Kameraden und geht nachts in die Diskotheken. Abir
ist im Grab.
Abirs
Vater war ein Krieger, der die Besatzung bekämpfte,
offiziell ein "Terrorist", obwohl das eine seltsame
Logik ist, die jene, die gegen Besatzung und
Enteignung ihrer Leute Widerstand leisten, als
Terroristen bezeichnet werden.
Bassam
Aramin ist noch immer ein Kämpfer, aber als
Friedensaktivist. Er weiß, wie auch ich weiß, dass
sein totes kleines Mädchen all die Gründe für diesen
Krieg mit in ihr Grab nimmt. Ihre kleinen Knochen
können die Bürde des Lebens, den Tod, die Rache und
Unterdrückung nicht tragen, mit der jedes arabische
Kind hier aufwächst.
Bassam,
als Moslem, glaubt, dass er als Mann von Ehre einen
Test bestehen muss, um nicht auf Rache aus zu sein,
nicht aufzugeben, nicht den Kampf um Würde und
Frieden auf seinem eigenen Land zu vernachlässigen.
Als er mich fragte, wo wir die Kraft finden könnten,
um weiterzumachen, sagte ich das einzige, woran ich
denken kann: von den Kindern, die uns geblieben
sind. Seine anderen Kinder, meine drei lebendigen
Söhne.
Von
den anderen palästinensischen und israelischen
Kindern, die ein Recht auf Leben haben, ohne von
ihren Ältesten dazu gezwungen zu werden, Besatzer
oder Besetzte zu sein. Die sogenannte aufgeklärte
westliche Welt begreift nicht, was hier geschieht.
Die gesamte aufgeklärte Welt steht daneben und tut
nichts, um kleine Mädchen vor mörderischen Soldaten
zu schützen. Die aufgeklärte Welt beschuldigt den
Islam, wie sie früher den arabischen Nationalismus
für alle Gräueltaten beschuldigte, die die
nicht-islamische Welt den Moslems auferlegt. Der
aufgeklärte Westen fürchtet kleine Mädchen mit
Schals auf ihren Köpfen. Sie wird von Jungen in
Keffiahs (Palästinensertüchern) in Schrecken
versetzt. Und in Israel, werden Kinder darin
geschult - am meisten von allen - die 'Früchte des
moslemischen Mutterleibs' zu fürchten. Deshalb sehen
sie, wenn sie Soldaten werden, nichts Falsches
darin, palästinensische Kinder zu töten, "bevor sie
wachsen".
Aber
Basam und Salwa und wir alle, die jüdischen und
arabischen Opfer der israelischen Besatzung - wollen
zusammen leben, so wie wir zusammen sterben. Wir
sehen unsere Kinder auf dem Altar einer Besatzung
geopfert, die keinerlei Basis in Gesetz oder Recht
hat. Und, außerhalb, rechtfertigt die aufgeklärte
Welt das alles und schickt den Besatzern mehr Geld.
Falls
die Welt(öffentlichkeit) nicht zu Bewußtsein kommt,
wird es in diesem Land nichts mehr zu sagen oder zu
schreiben oder zu hören geben, außer den stillen
Schreien der Trauer und den gedämpften Stimmen toter
Kinder.
*) Dr.
Nurit Peled-Elhanan (Universitätsdozentin,
Sacharow-Preisträgerin
2001) ist Mutter von Smadar Elhanan,
die 13jährig im September
1997 in Jerusalem bei einem
Selbstmordattentat getötet wurde. Nurit
Peled-Elhanan und ihre Familie sind Mitglieder der
'Palästinensischen und israelischen hinterbliebenen
Familien für Frieden (Palestinian and Israeli
Bereaved Families for Peace). Ihre zwei älteren
Söhne sind Aktivisten in den Friedensorganisationen
der Refusniks (Wehrdienstverweigerer) und Kämpfer
für den Frieden (Combatants for Peace), einer
Bewegung von palästinensischen und israelischen
Ex-Soldaten.
Übers.
von Tina Salhi |