KONZEPT und Künstlerische Leitung:
Dominique Caillat
Burg Namedy
D-56626 Andernach
Tel.: (+49) (0)174 311 25 55
Fax: 02632 - 49 26 82
E-Mail:
dominique.caillat(at)t-online.de
i. „kidnapping“: das stück
1.
Titel:
„Kidnapping“
Es
handelt sich um das psychologische „Kidnapping“ von Menschen durch
die Last der Weltgeschichte sowie durch radikale Anführer und
Ideologien.
2. Thema:
"Kidnapping"
ist ein Stück über den Nahost Konflikt und über das schwierige
Dreieck Deutschland-Israel-Palästina.
Im diesem
Drei-Personen-Stück setzt sich eine deutsche Journalistin mit einem
palästinensischen und einem israelischen Freund auseinander. Im
ersten Teil werden die verschiedenen Ansichten der Figuren über die
Entstehung des Staates Israels gegenübergesetzt, im zweiten Teil
bereisen die Charaktere die besetzten Gebiete, um den in Hebron
stationierten Sohn des Israelis und die in Jenin lebende Geliebte
des Palästinensers zu suchen.
3. Handlung:
Jerusalem 2004.
Anna, eine deutsche Journalistin, erwartet zwei Männer, einen
Israeli (Lev) und einen Palästinenser (Sami), mit denen sie als Kind
kurz befreundet war. Sie sollten ihre Hauptzeugen für eine Reportage
über die Lage im Nahosten werden. Auf dem Weg zu ihr sterben die
beiden in einem Selbstmordanschlag. Zu Annas Entsetzen erscheinen
Lev und Sami trotzdem zu der Verabredung und zwingen Anna, sie auf
eine Reise durch Zeit und Raum zu begleiten: Ihr Tod soll nicht
umsonst gewesen sein – die Reportage muss gemacht werden. Es
entwickelt sich eine absurde und dramatische Geschichte, die die
Protagonisten zu bedeutenden Schauplätzen der Vergangenheit und der
Gegenwart bringt. Dabei liefern sich Lev und Sami ein Duell der
Erinnerungen, um festzustellen, wer an den Ereignissen die größte
Schuld trägt, wer das größere Opfer ist und wie der Konflikt gelöst
werden könnte. Die deutsche Anna steht zwischen Ihnen, mit ihrer
eigenen Vergangenheit beschäftigt, stets bemüht, Rationalität in die
komplizierte dreifache Beziehung zu bringen und doch maßlos in dem
Geschehen emotional verwickelt. Nach dem zweiten Weltkrieg geboren,
stellt sie das "neue Deutschland" dar, mit ihren Schuldgefühlen und
ihrer Friedensobsession.
In "Kidnapping"
wird der Konflikt ganz absichtlich durch die Augen einer Deutschen
Frau (die Journalistin Anna) betrachtet, weil der Holocaust den
Schlüssel zum Verständnis Israels liefert. Anna ist keine objektive
Schiedsrichterin, sondern eine emotionale Teilnehmerin an dem
Geschehen. Ihre Reise mit den zwei Kindheitsfreunden wird zur
Selbstentdeckung ihrer eigenen Identität und Bewusstsein.
4.
Grundlage:
II. KIDNAPPING:
DIE PRODUKTION
1.
Produktionsablauf:
2002 – Frühjahr 2004: Recherche/Vorbereitungen. Sommer 2004: Text.
Herbst 2004: Proben in Berlin.
13.- 2004
bis 30. März 2005: Premiere im Staatstheater Mainz und 1.
Aufführungsphase
(Tournee in Deutschland und in der Schweiz, in Zusammenarbeit mit
der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz und Givat
Haviva Deutschland, e.V.), ca. 30 Aufführungen.
Ab Juni 2005, 2. Aufführungsphase, Produktionsleitung D.Caillat.
2.
Zielpublikum:
Erwachsene und Jugendliche (ab 16 Jahren) Unsere Publikumsgespräche
bieten im Anschluss an ausgewählte Vorstellungen die Möglichkeit zum
Gespräch. Die Autorin und das Ensemble stellen sich Fragen und
Kritik und berichten über seine Arbeit.
III.
KIDNAPPING: DIE KÜNSTLER
Text/Regie/Künstlerische
Leitung:
Dominique Caillat
Nach dem Schauspielstudium in Genf, Paris und London übersiedelte
die in den USA geborene Schweizerin Dominique Caillat nach
Deutschland, wo sie als Autorin, Regisseurin und Pädagogin tätig
wurde. 1993 gründete sie das Kinder- und Jugendtheater „Theater in
der Vorburg“ auf Burg Namedy (Andernach), das sie bis 2000 leitete.
Seitdem widmet sie sich vor allem der professionellen Theaterszene.
Insgesamt hat sie neun Theaterstücke und drei Monologe geschrieben
und inszeniert. Zu ihren Bühnenerfolgen gehören Stücke wie „Leb
wohl, Schmetterling“ (Kinder- und Jugendkulturpreis von
Rheinland-Pfalz 1998), eine Produktion, die zum internationalen
Erfolg führte, mit Aufführungen in Deutschland, Tschechien und
Israel; oder ihr „Prolog, Szene und Epilog“ für die Kinderoper
„Brundibár“ (Wiener Kammeroper 1999/ORF Aufzeichnung 2000). Weitere
Auszeichnung: „Forum Artis Plaudit“ 2000 („Wir gehören zusammen“).
In Rheinland-Pfalz wurde sie außerdem durch ihre Theatralisierungen
von Denkmälern, u.a. „Der ewige Soldat“ (Festung Ehrenbreitstein)
und „Gladiator Valerius“ (Amphitheater Trier) bekannt. 2003 war ihr
Zeitstück „Niemandsland“ über Gewalt in den Vorstädten in der
Kulturfabrik Koblenz wochenlang ausverkauft.
Co-Regie:
Michael Sturm Geb.
in Hamburg, Studium „Musiktheater-Regie“ an der Hochschule für Musik
und Theater Hamburg bei Götz
Friedrich, anschließend Assistenzen u.a. bei Ruth Berghaus und Harry
Kupfer, Teilnehmer der Bühnenklasse von Achim Freyer am Bauhaus
Dessau. Seither Arbeiten als freischaffender Opernregisseur u.a. in
Potsdam, Meiningen, Dessau, Hamburg, Kassel, Prag, Linz und Wien.
1995 Inszenierung der „Verkauften Braut“ im Rahmen des
Gedenkfestivals Theresienstadt. 2002 gründet er das Musiktheater
„Ensemble Sturm und Klang“. (Homepage: www.sturm-taubertova.cz.)
Bühnenbild,
Kostüme:
Katharina Gault und Norbert Bellen
Katharina
Gault:
Nach einem Werbe-, Graphik- und Bühnenbildstudium, Arbeit als
Ausstatterin für Film, Oper, Tanztheater und Schauspiel u.a. an den
Theatern von Tübingen, Münster, Passau, Meiningen, Lyon und Nancy.
Norbert
Bellen:
Nach einem Architekturstudium Arbeit u.a. an den Theatern von Essen,
Berlin, Wuppertal, Bremen und Weimar. Gründer einer Agentur für
digitale Medien und einer Online-Galerie. Szenenbilder für
verschiedene Film und Fernsehproduktionen.
Lichtgestaltung
und technische Leitung:
Harald Gernig
Während des
Studiums der Theaterwissenschaft begann Harald Gernig an der
Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin als Beleuchter zu arbeiten,
ließ sich dann als Beleuchtungsmeister prüfen, später auch zum
Theatermeister und konzentrierte sich dann auf die künstlerische
Entwicklung der Lichtgestaltung. Er arbeitete unter vielen anderen
mit Peter Stein, Klaus-Michael Grüber, Gilles Aillaud, Ernst
Stötzner und Lucio Fanti zusammen. Später wechselte er zum Theater
des Westens in Berlin und dann am Schauspiel Frankfurt am Main. Seit
zwei Jahren, widmet er sich der freien Szene.
IV.
PRESSESTIMMEN
Eine Facettenreiche, faire, auch witzige Doppelstunde. In 90
Minuten dröseln Caillat und Mitregisseur Michael Sturm auf, wie der
Teufelskreis in Nahost kaum zu durchbrechen scheint. Sami und Lev
(sympathisch agil: Ahmed Konstantin Bürger und Jaron Löwenberg)
schleppen Vorurteile mit sich herum, aber auch Ängste, die nicht so
flott wegzuargumentiern sind. Der Kidnapper Vergangenheit hält sie
fest, Auch Anna (Antonia Cäcilia Holfelder), deren Probleme einem
interessanterweise nicht zuletzt deutsch vorkommen, weil sie sich so
wichtig nimmt.
(Frankfurter
Rundschau, 15.12.04)
Das Theaterstück bietet einen neuen, erfolgversprechenden Zugang
zum Thema.
(Speyerer
Morgenpost, 16.12.04)
Die zahlreichen Besucher erlebten eine eindrucksvolle, sehr dichte
Inszenierung, die gleichermaßen informierte und ergriff, was nicht
zuletzt auch dem wachen, engagierten Spiel der Schauspieler zu
verdanken war.
(Main-Rheiner
Allgemeine Zeitung, 17.12.04)
„Kidnapping“ ist ein hartes, grausames, brutales Stück, weil es
harte, grausame, brutale Gegebenheiten schildert, die Jahrtausende
zurückreichende Kette blutiger Missverständnisse… Warum aber dieser
Hass: Lev, zum – absurden - Beispiel: „Wir hassen euch, weil wir
euch töten müssen.“ Die Akteure sind sympathisch. Man freundet sich
schnell mit Ihnen an. Leidet mit ihnen. Man darf aber auch mit ihnen
hin und wieder verzweifelt lächelnd den Kopf schütteln, wenn das
Grauen seiner Absurdität wegen fast lächerlich genannt werden muss.
Das Spiel ist stellenweise von einer Intensität, dass es einem
selbst graut. Des toten Levs Begegnung mit seinem, für ihn
unerwartet, an der Grenze Dienst tuenden Sohn… Wie sollte man das
noch beschreiben: Als sentimental? Als melodramatisch? Nichts von
beiden. Es ist nur – Nahost. Dominique Caillat und den Schauspielern
ist ein eineinhalbstündiges Stück gelungen, das betroffen, zugleich
aber auch hoffen macht. Wie absurd verfahren die Situation in Nahost
auch ist: Sollte sie eines nicht allzu fernen Tages vielleicht nicht
auch ganz absurd einfach zu lösen sein?
(Bremer
Nachrichten, 5.2.05)
V. KIDNAPPING:
ZUSCHAUER REAKTIONEN
Kidnapping in
Worms am 28.1.05
Sehr verehrte
Madame Caillat,
Ihr Gastspiel
in Worms liegt zwar schon über eine Woche zurück, aber ich möchte
nicht versäumen, Ihnen und Ihrer Truppe für den beeindruckenden
Abend herzlich zu danken. Ich selbst hatte das Stück bereits in
Osthofen gesehen, meine Faszination ist nach der 2. Aufführung am
28.1. eher noch gewachsen. Das kann ich auch aus Publikumsreaktionen
nach der Aufführung vom 28.1. bestätigen. Einige Besucher haben mir
versichert, dass sie auch in die Schülervorstellung am 28.2. ins
Festhaus kommen wollen, um Ihr Stück ein zweites Mal zu sehen.
Was mich am
Stück selbst am meisten beeindruckt hat, war weniger der
dokumentarische Gehalt. Der ist mir als Vorsitzender von WARMAISA
Gesellschaft zur Förderung und Pflege jüdischer Kultur in Worms
weitgehend bekannt, weil wir uns mit der Thematik seit vielen Jahren
intensiv befassen. Aber auch unter diesem Aspekt muss ich sagen,
dass ich Ihre Darstellung als sehr ausgewogen und korrekt empfunden
habe. Was mich aber an Ihrem Theater mehr faszinierte, war die
poetische Dimension, etwas was man im üblichen Dokumentartheater
sehr selten in dieser Dichte findet. Das betrifft sowohl die
Balletteinlage, aber noch mehr die sich an Intensität steigernden
Wiederholungen der kontroversen Standpunkte der Protagonisten, die
sich als roter Faden durch die Handlung zogen. Deutlich wurde
vermittelt, wo die "Knackpunkte" der Problematik liegen, leider
auch, dass man sich hier in einem circulus vitiosus befindet, aus
dem es keinen Ausweg gibt, weil sich beide Seiten in ihren
jeweiligen Standpunkt verbeißen. Auch wenn das Stück keinen
hoffnungsvollen Ausweg auf -zeigte, er wäre vermessen, auch wenn
sich manche Besucher etwas Derartiges gewünscht hätten, so gab es
doch ganz zarte Ansätze dazu, beispielsweise bei der Zubereitung des
Essens (israelischer / arabischer Salat - eh dasselbe) oder auch
wieder in der Ballettszene. Auch muss ich die geniale Grundidee
loben, die ich anfangs (bei der Lektüre des Programmheftes) als
konstruiert und an den Haaren herbeigezogen empfand. Beim Spiel war
sie es nicht, im Gegenteil, sie war als Auslöser zur Darstellung des
Problems und vor allem auch um die deutsche Verstrickung darin
außerordentlich brauchbar.
Ich bitte Sie
sehr, meine Grüße, meine Bewunderung und meinen Dank an Ihr Team
weiterzuleiten. Ich will versuchen, wenn es irgend möglich ist (ich
bin am Wochenende 25. - 27.2. in Paris) auch zur Aufführung am 28.2
(meiner dritten) zu kommen. In jeden Fall werde ich bei der
Diskussion am Nachmittag (ich hoffe noch immer, dass sie mit Ihrer
Beteiligung zustande kommt) dabei sein.
Mit freundlichen Grüßen, Roland Graser
Frau Stark,
Rheinfeldstr. 65, 67354 Speyer
nach der
Aufführung in Worms am 28.1. 2005
Sehr geehrte
Frau Caillat,
Ganz herzliche
Grüße aus Speyer! Das heutige, für uns wenige, aber total
gefesselte, bestens „aufgeklärte“ und gerührte Zuschauer/innen
sicher unvergessliche Theatererlebnis drängt mich, ihnen und allen
Beteiligten/Schauspieler/in noch schriftlich ganz, ganz herzlich zu
danken. Meine Freundin und ich sagten beim Rausgehen wie aus einen
Munde: „Ich glaube, jetzt habe ich ein bisschen vom Verfahrenen
Konflikt begriffen“. Es ist ein so menschliches, so starkes,
tapferes Stück mit so entscheidenden Details. (Wir haben Fr. Sumaja
Farhat-Naser erlebt und vor lauter Schreckenszuständen nur nach und
nach etwas verstanden, das Stück hilft ungemein zu einem tieferen
Verstehen – und da wäre ein positiver Ausblick ja ein Bruch; und
nichts war zu akademisch!) Lassen Sie sich bitte nicht entmutigen!
Schade, dass wir nicht in Andernach wohnen. Wo sind heute die
Dt.-Gesch.-Lehrer/innen?
Alles Gute,
Grüße, A. Stark und R. Pöse
Betreff:
Kidnapping im Wormser BIZ
Datum: Fri, 4
Feb 2005 04:02:11 EST
Von: PtSchweiger(at)aol.com
Liebes, starkes
Theater-Team, das sich diesem Dilemma-Thema stellt. Zuerst war ich
ganz neugierig, wie kriegen die so einen Stoff in ein Stück, wie
kriegen die dann dieses Stück auf die Bühne, ohne zu lehrmeistern,
zu moralisieren. Und ich war dann ganz weg von eurer Kunst,
zeitweise wie gelähmt, konnte zwischen durch lachen und einfach
staunen. Ganz nahe war die Szene mit den fiktiven Personen, wie z.
B. dem Soldaten-Sohn von Lev. Da war ich plötzlich gemeint. Ja, ihr
ward unbestechlich in eurer Präsenz. So, das wollte ich euch
mitteilen. Dem Projekt wünsche ich ich viele, viele Aufführungen,
wobei euch der Funke nicht verloren gehen soll. Und ich wünsche euch
einen Haufen großzügiger Sponsoren und Sponsorinnen. Hildegund
Schweiger aus Worms
Betreff:
Kidnapping (in Koblenz)
Datum: Mon, 14
Feb 2005 13:13:01 +0100
Von: Gisela Rothenbücher <G.L.Rothenbuecher(at)gmx.de>
ein
beeindruckender Theaterabend,
ein grandioses
Theaterstück von Dominique Caillat.
"Nie habe ich
eineinhalb Stunden so atemlos einem Theaterstück gelauscht" sagte
ein älterer Herr neben mir, nachdem der lang anhaltende Applaus
verklungen war, und dem kann ich mich nur anschließen. Alle Facetten
des Konfliktes (oder Krieges?) im "Heiligen Land" aufdeckend ging
das Stück unter die Haut und war teilweise wirklich nur durch die
versöhnlichen Passagen zu ertragen. Dass der Applaus spät einsetzte,
spricht für die enorme Leistung der Schauspieler. Danke!!! Gerne
würde ich das Stück weiter empfehlen und wäre dankbar für eine Liste
über weitere Termine. Über meine palästinensische Freundin, Faten
Mukarker, (Sie nahm an den Autorentreffen in Landau und Mainz teil,
das so weit mir bekannt, von Ihnen organisiert wurde.) könnten wir
einen großen Kreis Interessierter erreichen. Für 5 weitere
Programmhefte zum Weitergeben wäre ich Ihnen ebenso dankbar. Ich
freue mich auf Ihre Antwort.
Shalom und
Salam Gisela Rothenbücher
Auszug aus einer E-Mail vom 16. Februar 2005 an Hans-Georg Meyer, Leiter LpB Rheinland-Pfalz, zur Premiere in Mainz am 13. Dezember 2005-02-21
…An dieser Stelle (wenn auch etwas spät) danke ich Ihnen herzlich für den
Abend, an welchem ich zusammen mit Frau Hahn und Frau Wiedemann das
Theaterstück "Kidnapping" in Mainz besucht habe. Ein wunderbares Stück,
welches mit schlichten Mitteln deutlich gemacht hat, wie sich die
Problematik des Miteinanders der Kulturen darstellt. Sie haben völlig Recht
mit Ihrer Einführung: Politische Bildung findet im Theater statt. Ich denke,
dass viele der Besucher nach diesen 2 Stunden mehr an Verständnis für die
Problematik mitgenommen haben, als aus manchem Seminar. Vielen Dank!
…
Susanne Krupka, Ingelheim
VI. KIDNAPPING: INTERVIEW VON DOMINIQUE CAILLAT,
AUTORIN
Dominique Caillat, um „Kidnapping“ zu
recherchieren bereisten Sie monatelang Israel und die palästinensischen
Gebiete: Was war ihr Haupteindruck?
Daß diese Geschichte unzählige Schichten hat. Das
Verwirrende, ist das beide Seiten im Endeffekt Recht haben, so daß ein
Kompromiß erforderlich ist.
Im Gegenteil zu den meisten Ausländern, die sich in
der Region aufhalten, bin ich ständig von einer Seite zur anderen
übergewechselt. Es war etwas anstrengend, denn auch ich möchte lieber
eine klare Meinung haben und mich an Stereotypen festhalten, z. B. „Die
Besatzung ist grausam!“ und nicht weiterdenken. In der Tat, die
Besatzung ist grausam. Das fühlt man ganz stark, sobald man einige
Stunden an einem Checkpoint gestanden hat.
Aber: Am nächsten Tag fahre ich nach Jerusalem und
erreiche das Zentrum knapp eine Stunde nach einem Selbstmordanschlag,
der in einer Hauptverkehrsstraße verübt worden ist, einer Straße, die
ich ständig benutze. 12 Tote und unzählige Verletzte, darunter mehrere
Kinder. Am selben Tag treffe ich einen angeblich pazifistischen
Palästinenser, in Deutschland ausgebildet, der sich als radikaler
Holocaustleugner entpuppt, der Israels Existenzrecht leugnet, über die
„jüdische Weltverschwörung“ schimpft, usw. Da läuft es mir kalt den
Rücken herunter. Der nächste Termin ist mit fanatischen Siedlern, die
einem wahnsinnigen Gott folgen und von dem Mörder Baruch Goldstein (der
1994, in Hebron, 29 Muslime beim Gebet niedermetzelte) schwärmen: „Ein
wunderbarer Mann, ein Arzt, der das Leben schätzte, viele Leben rettete,
Sie hätten ihn auch geliebt“. Ich schaudere nur. Danach ein Brunch mit
einem älteren israelischen Paar – beide intensiv im Zivilwiderstand
gegen die Besatzungspolitik engagiert, beide kultiviert, weise und
wunderbar, und doch erzählt mir der Ehemann, daß er einst Mitglied der
Irgun war, der faschistischen Terrorgruppe, die 1946 für den Anschlag
auf das King David Hotel (91 Tote) verantwortlich ist… Nichts stimmt:
das Bild verzerrt sich ständig, wie in einem kaputten Spiegel.
Wie haben Sie ihre Erlebnisse in „Kidnapping“
verarbeitet?
Ich habe versucht, jeder Geschichte aus einem Lager,
eine Geschichte des anderen Lagers gegenüber zu stellen. Ich habe auch
mit Clichés gearbeitet, denn sie sind ein fester Teil des Alltags.
Außerdem habe versucht, eine private Ebene zwischen den Figuren zu
finden, die die politische Lage widerspiegelt und ergänzt.
Die Vergangenheit spielt in „Kidnapping“ eine
große Rolle. Wäre es nicht besser gewesen, sich auf das hier und heute
zu konzentrieren?
Die Vergangenheit ist der Schlüssel zum Verständnis
der Situation, sowohl auf der politischen, wie auch der psychologischen
Ebene. Sie lebt in der Gegenwart weiter. In Palästina geben die
Abkömmlinge der Flüchtlinge von 1948 immer noch irgendwelches Dorf als
Heimatort an, das seit über 50 Jahren von der Landkarte verschwunden
ist. Auch die Israelis sind von ihrer langen Geschichte gefangen.
Vor allem die Kriege prägen die Mentalitäten und
zwar mit gegensätzlichen Wahrnehmungen: Besonders 1948 (Unabhängigkeit
vs. Naqba/Kaktastrophe), 1967 (Rückkehr zum Land der Vorfahren vs.
Besatzung), 1973 (Desaster knapp vermieden vs. die Niederlage als Sieg
empfunden), ab 1982 der traumatische Libanon Krieg, 1991 der Golfkrieg
(Tel Aviv von Raketen getroffen vs. Palästinenser für Saddam Hussein).
Ich habe das Stück auf diesen verschiedenen
Wahrnehmungen gebaut: Im Grunde genommen gibt es zwei Wahrheiten, was
für meinen rationalen europäischen Sinn sehr irritierend ist – das
ergibt für mich eine dramatische Situation, die theatralisch ist.
Was hat die Journalistin Anna dort zu suchen? Was
geht uns, die Deutschen, diese Geschichte an?
Vieles. Deutschland ist, seiner eigenen Geschichte
wegen, mit Israel und damit auch mit Palästina emotional und politisch
verbunden. Das empfinden auch die Leute vor Ort – Die Palästinenser
behaupten ständig, daß Deutschland Schuld an die Gründung des Staates
Israel ist. Und für die Israelis ist der Holocaust zum Bestandteil der
eigenen Identität geworden. Den Standpunkt der deutschen Journalistin
hat die Korrespondentin der „Zeit“ in Israel, Gisela Dachs, in einem
Buch beschrieben: „Der Holocaust, ohne den sich Israel nicht verstehen
lässt, gehört der eigenen Geschichte an. Anders als die Palästinenser,
die sich selbst als Opfer der Opfer begreifen, können sich die Deutschen
nicht vom Leid der Juden in der Vergangenheit distanzieren. Dieses
schwierige Dreieck macht das Bemühen um eine objektive Berichterstattung
zu einer noch größeren Herausforderung – denn per Knopfdruck kann man
sich in diesem Umfeld nicht befreien“.[1]
In seinem Vorwort schreibt Joschka Fischer: „Für
uns Deutsche geht es hier um Grundfragen unserer Politik und Ethik. Kein
anderes außenpolitisches Thema rührt so tief an unser Selbstverständnis
als Nation, ja an unsere Identität, wie dieses. Deutschland hat aufgrund
der historischen Verantwortung für den Holocaust eine besondere
Verpflichtung für das Existenzrecht und für die Sicherheit des Staates
Israel. Diese Verpflichtung steht für uns nicht zur Disposition und kann
nicht relativiert werden. Aus der Geschichte folgt für uns aber auch
eine generelle Verpflichtung, für die Rechte anderer Völker, auch die
der Palästinenser, einzutreten.“
So sehe ich es auch. Dennoch ist die Journalistin
nicht nur Berufsfrau. Der Nahost Konflikt ist für sie auch ein Metapher
für viele Themen, die sie sonst beschäftigen. Israel ist Land der Bibel,
Land der Überlebenden, Land der Widerständler, Land der Utopie, der
gebrochene Träume, der Macht, der Angst, der Rache, der Sehnsucht nach
Sicherheit und nach einer Heimat, Land unserer Sünden, Land des ewigen
Bruderkrieges zwischen Isaak und
Wie schwierig war es für Sie, Sich in die
Realität der Israelis und Palästinensers hineinzusetzen?
Die israelische Gesellschaft ist absolut westlich
orientiert: Selbst wenn sie mediterraneische Züge hat, bleibt sie
unserer eigenen Gesellschaft sehr ähnlich. Für mich ist es überhaupt
kein Problem dort zu leben: Ich fühle mich, wie zu Hause. Die politische
Lage ist zwar sehr schlecht, die Politik sogar abstoßend, aber das Leben
selbst verläuft nach bekannten Mustern, womöglich mit mehr Dynamik und
Flexibilität. Es ist eine ausgesprochen aktive westliche
Zivilgesellschaft.
Was fremd ist, ist der Krieg selbst. Er ändert die
Menschen, die primitiver, aggressiver werden. Außerdem ist Israel, trotz
seiner alten Kultur, ein junger Staat mit typischen „Jugend-Zügen“, vor
allem dem feurigem Patriotismus von fast allen Bürgern. Bei uns ist das
etwas außer Mode geraten.
Gleichzeitig sind die Israelis von Angst geplagt,
vor allem dem Angst vor der eigenen Vernichtung, vor der Feindlichkeit
der Welt. Ein Freund von mir sagt oft: „Eigentlich sind wir Samsons, die
in der Nacht Angst haben, Katzen, die sich vor Mäusen fürchten“. Das
kann man gut nachvollziehen, wenn man sich mit der Geschichte der Juden
auseinandersetzt. Ein anderer Freund behauptet: „Eigentlich brauchen wir
keine Politiker, sondern Psychiater“.
Auf der palästinensischen Seite ist es anders. Dort
gibt es natürlich jede Menge Leute, besonders in den städtischen Eliten
– Intellektuelle, Anwälte, Ärzte, Universitätsprofessoren, Künstler,
sogar einige Politiker! – die kaum zu unterscheiden sind von Männern und
Frauen in Paris, Berlin oder Tel Aviv. Aber ein Großteil der Bevölkerung
lebt in einer Welt, die man sehr schön und anziehend finden kann, wie
ich es tue, aber die uns fremd bleibt.
Es fängt natürlich bei den Frauen an, die in dieser
stark patriarchalischen Gesellschaft eine untergeordnete Stellung haben:
Zwangsehen, Verhüllung, massenhafte Kinderproduktion, ein isoliertes
Leben daheim, ganz zu Dienste der Männer, Mordstrafe auf Ehebruch, etc.
Es geht weiter mit dem Klansystem. Der Klan ist
etwas, wovon wir im Grunde genommen keine Ahnung haben, die aber den
Alltag und die Politik in Palästina so sehr prägt, daß eine Demokratie
in unserem Sinne kaum vorstellbar ist. Ich finde nicht, daß es uns
zusteht, zu entscheiden, ob dieses fremde System gut oder schlecht ist.
Das Klansystem hat offensichtliche Vorteile. Es ist bewundernswert, daß
in den palästinensischen Städten, trotz des Zusammenbruchs der
Wirtschaft, trotz der Auflösung der „Regierung“, trotz der internen
Machtkämpfe zwischen verschiedenen Strömungen (um sie nicht „Gangs“ zu
nennen), trotz der durch die Besatzung verursachten Armut und der bis
60%igen Arbeitslosigkeit, die eigentliche Ordnung noch nicht zerstört
ist. Bei uns würden solche Umstände ein komplettes Chaos verursachen,
mit hoher Kriminalität und dem Ende der Moral. Aber in Nablus brauchen
die Bewohner nach wie vor, ihre Eingangstür nicht abzuschließen, jeder
wird auf irgendeine Weise versorgt und zwar nicht nur durch
internationale Hilfe sondern dank dem Klan, der die seinen beschützt.
Wollen wir diese bestehende Ordnung im Namen der Demokratie wirklich
zerstören?
Man spricht viel von einer angeblichen
Gewaltakzeptanz unter den Palästinensern. Ist das wirklich so prägnant?
Ja und Nein. Eigentlich empfinde ich die
israelische Gesellschaft als grundsätzlich eher „Macho“ und aggressiv
als die palästinensische. Das hat mit der Geschichte zu tun, mit dem
Konflikt, der Stellung als ständiger Besatzer sowie mit dem Status der
Armee. Die Israelis halten viel vom „stark sein“. Man will ja nie wieder
„wie die Schafe aufs Schafott gehen“. Und teilweise haben sie recht:
Ohne die Erfolge der IDF gäbe es Israel heute nicht.
Die Palästinenser wirken meist etwas sanfter und
müder als ihre Gegner, sehr höflich und unglaublich gastfreundlich. Zu
den Machtdemonstrationen mit vielem Schießen in der Luft, feurigen Reden
und eingehüllten Köpfen, wie man sie im Fernsehen so gerne zeigt, gehört
eine gewisse Theatralik: Das ist das Bedürfnis des Schwächeren, die
Zeichen der Macht vorzuzeigen. Trotzdem ist die Gesellschaft stark
patriarchalisch und das geltende Gesetz ist das Gesetz des Stärkeren.
Man greift schnell zu Einschüchterungsmitteln, die uns barbarisch
erscheinen mögen.
Ich wollte eigentlich vom Terror reden. Ist es
nicht so, daß die Operationen der israelischen Armee in den besetzten
Gebieten, mit ihrer Gewalt, Willkürlichkeit und steigendem Vandalismus,
den Terror verursachen?
Ein wachsender Teil der palästinensischen
Bevölkerung scheint der Meinung zu sein, daß die Anschläge auf
Zivilisten in Israel konterproduktiv sind. Sie glauben generell, daß es
ein strategischer Irrtum gewesen ist, die aktuelle (sogenannte „zweite“
oder „Al Aqsa“) Intifada zu militarisieren. Die Reaktion der Israelis,
die sich verteidigen wollten, war brutal und hat das Leben der
Palästinenser fast zum Stillstand gebracht. Die pazifistische
israelische Bewegung wurde ohnmächtig gemacht. Die Befürworter des
großen Israels und alle Extremisten bekamen freie Hand.
Ein Großteil des palästinensischen Volkes hat aber
keine moralischen Hemmungen in Bezug auf die Selbstmordanschläge. Die
Ablehnung ist nur politisch. Die Hauptargumente sind immer: „Sie töten
unsere Kinder, wir töten die ihren“ und „wir haben keine Panzer oder
Raketen, was bleibt uns denn übrig?
Ich persönlich sehe keine Entschuldigung für die
Attentate auf Zivilisten. Absolut keine. Sie sind für mich grundsätzlich
unmoralisch und grausam: Ich lehne sie ab.
Man darf sich trotzdem Gedanken machen, warum sie
zustande kommen. Ich bin durchaus ihrer Meinung, wenn Sie sagen, daß die
Aktionen der IDF Hass und Verzweiflung in Palästina erzeugen und daß
extremistische Gruppierungen es gut verstehen, diesen Hass und diese
Verzweiflung zu instrumentalisieren, um ihren Machtkampf zu
unterstützen. Es stimmt, daß unzählige Kinder und sonstige Zivilisten
durch Operationen der Israelischen Armee getötet worden sind. Es stimmt
auch, daß die israelische Armee, wie jede Besatzungsarmee, wachsende
Brutalität und Willkür ausübt. Besatzung korrumpiert. Ich glaube, der
Terror wird weiter gehen, solange die Israelis mit allen Siedlern nicht
aus den Gebieten ausziehen. Er wird auch den Frieden, falls dieser
gelingt, weiter vergiften, aber in kleinerem Maß, weil es lange dauern
wird, bis man die fanatischen Elemente der Gesellschaft unter Kontrolle
hat.
Die Figuren im Stück sprechen sich gegen die
Terroranschläge in israelischen Städten. Sie befürworten aber wohl den
bewaffneten Widerstand gegen die israelischen Soldaten. Ist das Ihre
eigene Meinung?
Ich kam nach Israel als „typische“ Pazifistin, eine
Idealistin, die alle Gewalt ablehnt und Versöhnung zwischen allen
Menschen anstrebt. Das ist so eine angenehme, klare Stellung! In den
besetzten Gebieten wurde ich aber Zeugin von Gewalt und Willkür ohne
Ende. Während ich dort war, gab es den großen Angriff auf das Raffah
Flüchtlingslager. Außerdem wurden fast jeden Tag Menschen in Gaza und in
der West Bank getötet, darunter viele Zivilisten. Häuser wurden
zerstört, meistens mit ihrem ganzen Inhalt. Einige Male wurden sogar
ältere Menschen aus Versehen unter den Trümmern vergraben. Das muss man
verstehen, um die Reaktionen der Palästinenser besser nachzuvollziehen.
Im Laufe meines Besuchs traf ich einen prominenten Psychiater aus Gaza,
Dr. Eyad Sarraj, der die Traumata der Zivilbevölkerung, besonders der
Kinder, behandelt. Er sagte mir: „Sie müssen verstehen, daß 99% der
Kinder Zeuge von Schießereien und Verhaftungen gewesen sind. Ein
Großteil hat zugesehen, wie jemand zu Tode erschossen wurde. Viele waren
zu Hause, als die Soldaten mit Planierraupen kamen, um alles zu
zerstören. Meistens haben sie knapp 10 Minuten gehabt, um die Sachen zu
holen, die sie retten wollten. Manchmal aber ging alles so schnell, daß
die Familie eine Wand selbst mit Hämmern zerstörte, um Flucht vor den
Planierraupen zu ergreifen. Mehrere ihrer Verwandten, vielleicht ihr
eigener Vater oder ein Bruder, sitzen im Gefängnis. In einer solchen
Situation leiden die Kinder, aber auch die Erwachsene unter ständiger
Angst, wenn nicht Panik. Das ergibt ein Gefühl der absoluten
Unsicherheit. Sie werden depressiv, haben Alpträume, Kopfschmerzen und
leiden unter schweren psychosomatischen Stress-Syndromen. Der einzige
Weg, solche Angst zu überwinden, ist anzugreifen. Wenn ein Junge einen
Stein auf einen Panzer wirft, überwindet er seine Angst, er beherrscht
wieder seine Gefühle, ja sein ganzes Leben. Dieser Widerstand macht ihn
stolz, er kann jetzt in Würde weiterleben. Der bewaffnete Widerstand der
Militanten hat denselben Zweck, er unterstützt die psychische Verfassung
der Bevölkerung. Auch die Palästinenser wollen nicht „wie die Schafe
aufs Schafott gehen“: Zugegeben, es gibt keinen Vergleich zwischen den
Umständen des Holocausts und denen, die hier herrschen, aber es gibt
psychologische Parallelen. Die Soldaten besetzen illegal unser Land und
führen gewalttätige Operationen gegen die ganze Bevölkerung: Wir haben
das Recht und auch die Pflicht, uns zu verteidigen. Wie gesagt, das ist
auch eine Frage des geistigen Überlebens.“
Inzwischen kann ich diese Auffassung nachvollziehen.
In der Tat, warum dürften ausgerechnet die Palästinenser keinen
Widerstand leisten? Haben wir nicht Widerständler bei uns und in der
ganzen Welt immer wieder unterstützt und bewundert, wenn sie gegen eine
illegale Besatzung oder gegen eine Diktatur kämpften? Haben Zivilisten
nicht das Recht, sich gegen eine feindliche Armee zu wehren?
Mir fällt das alles sehr schwer, da die meisten
meiner israelischen Freunde Kinder in der Armee haben. Einige (wenige)
der Kinder dagegen, sitzen im Knast, weil sie den Dienst verweigern. In
Israel ist das eine sehr schwierige, mutige Entscheidung, die gegen den
Strom geht. Langsam verbreitet sich aber die Bewegung der sogenannten
„Refuzeniks“.
Und was ist der Einfluss der Religion?
Der Islam hat noch keine Aufklärung gehabt. Genau
wie das orthodoxe Judentum. Viele einzelne Muslime und orthodoxe Juden
mögen selbst aufgeklärt sein, aber nicht die Religionen selbst, die alle
Reformen ablehnen und nur zurück zum Ursprung, zu den Grund-Texten
wollen. Sie haben den Schritt in die Modernität noch nicht geschafft:
Das wird irgendwann in der Zukunft geschehen. Denn es gibt zu viel
Unterschied zwischen den Geboten des Korans oder der Bibel und dem
Alltag im 21. Jahrhundert. Das machen die Gläubigen irgendwann nicht
mehr mit.
Was den Einfluss der Religion auf die Situation
betrifft, ist der berühmte Zitat von Karl Marx immer noch aktuell: „Die
Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer
herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das
Opium des Volks.“ Religion ist in meinen Augen nicht nur das, aber
manchmal auch das! Und in Palästina trifft diese Erklärung genau zu.
Die Ausnutzung des religiösen Glaubens, um
politische Macht zu erzielen, ist eine altbekannte Geschichte. Wenn Gott
im Spiel ist, gibt es keine Kompromisse. Gott ist absolut. Das ist das
Gefährliche an ihn, falls er in die Politik einbezogen wird.
Noch was: In Europa sind wir auf Dinge wie das
Kopftuch absolut fixiert. Ich bin auch kein großer „Fan“ davon, aber in
Palästina hatte ich den Eindruck, daß viele Frauen, inklusive gebildete
Frauen, Intellektuelle, das Kopftuch tragen und ihre Religion
zielstrebig praktizieren, weil es ihre Identität stärkt. „Es ist Krieg,
die anderen sind die dekadenten Westler und wir unterscheiden uns von
ihnen durch unser Aussehen und unsere Lebensweise“: Das hat mit
Identität im Krieg (und im „Kulturkampf“) zu tun. Irgendwie ist das
Kopftuch sowohl ein Zeichen der Unterdrückung wie auch der Emanzipation.
Das ist ein typischer nahöstlicher Widerspruch!
Stimmt es, daß die meisten Dialoge im Stück auf
wahren Ereignissen beruhen?
Ja. Natürlich dramatisiert „Kidnapping“ nur ein
winziges Prozent meiner Erlebnisse. Ich musste mich sehr stark bremsen,
um kein 10-stündiges Stück zu konzipieren! Darum habe ich auch ein
Tagebuch meiner Recherchen geschrieben. Das Buch wird von der
Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz veröffentlicht.
Aber selbst in den Szenen, wo es in „Kidnapping“
nicht so sehr auf die Politik ankommt, bezieht sich der Text stark auf
meine Lebenserfahrungen, besonders Kindheitserinnerungen aus Paris. Die
Anekdote, die ich als Ausgangspunkt für das Stück benutzt habe, ist
autobiographisch: Die Freundschaft mit einem palästinensischen Kind 1967
in Paris, das wegen des Sechs-Tage-Krieges weggehen muß; dann eine
Freundschaft mit einem Israelischen Kind, nach dem Krieg, das das andere
sozusagen ersetzt.
Die Kindheitsebene habe ich als Metapher für die
Sehnsucht aller Protagonisten nach einer heilen Welt, vor dem
Sündenfall, benutzt. Für die Palästinenser ist das die Welt vor 1948,
vor der Staatsgründung Israels; für die Israelis ist es 1967, vor dem
Anfang der Besatzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens; für die
Deutsche ist es die Zeit vor dem Holocaust. Auf der privaten Ebene der
Figuren ist Paris 1967 die Zeit der Unschuld und des Glücks – danach
wurden sie vom Paradies rausgeworfen und sie entdeckten ihre Nacktheit.
Oktober 2004
[1] Gisela Dachs, "Deutsche, Israelis und
Palästinenser – ein schwieriges Verhältnis". Palmyra Verlag 1999, mit
einem Vorwort von Joschka Fischer.