Sehr geehrte Damen & Herren,
liebe Freunde & Kollegen,
anbei der neuste medico-Bericht
über die Lage in Gaza und über die Arbeit von israelischen und
palästinensischen Partnerorganisationen von medico angesichts
der schockierenden Ereignisse der letzten 20 Tage. Wir bitte Sie
darum, diese Informationen weiterzuleiten beziehungsweise zu
veröffentlichen.
Schlimmste
Bombardierungen seit Beginn der Angriffe
Zur aktuellen
Situation im Gazastreifen und zur Arbeit unserer Partner
Die
Kämpfe im Gazastreifen gehen weiter, ohne auf die zivilen Opfer
zu achten. Die israelische Armee führt derzeit die heftigsten
Bombardierungen seit Beginn der Angriffe durch, aber auch die
die Hamas schickt weiter ihre Raketen in die israelischen
Siedlungszonen nahe des Gazastreifens. Wie der medico-Partner
Medical Relief von vor Ort berichtet, stehen die Mitarbeiter vor
der Frage, ob sie ihre bislang durchgeführten medizinischen und
therapeutischen Hilfsmaßnahmen noch durchführen können. Die
wichtigste UN-Organisation zur humanitären Versorgung der
Palästinenser UNRWA musste gerade ihre Arbeit einstellen
aufgrund der massiven Bombardierungen. Denn sowohl das
Hauptquartier als auch Lager der UN-Organisationen sind
angegriffen worden. Durch die massiven Luft- und Panzerangriffe
sind mittlerweile nach UN-Schätzungen bis zum 13.01.2009
mindestens 311 Kinder getötet, 1.500 verletzt worden, sprich
etwa ein Drittel der Opfer seit Beginn der Kampfhandlungen am
27.12.2008. Geschätzte 90.000 Menschen sind Binnenflüchtlinge.
Die von der UN bereitgestellten Schulen und andere öffentliche
Räume sind überfüllt - und selber nicht sicher. Für die gesamte
Bevölkerung gibt es keinen "safe haven" - der ganze Gazastreifen
ist ein Kampfgebiet, Israel ermöglicht keinen Ort, in dem die
Zivilbevölkerung - 56% davon sind Minderjährige - sich sicher
wähnen kann.
Gesundheitspersonal als Ziel
Auch das Gesundheitspersonal in Gaza bleibt hiervon nicht
verschont: 13 Ärzte und Sanitäter sind bislang getötet worden,
15 Ambulanzen sind beschädigt worden, sodass die Hilfe für
Verletzte sich noch schwieriger gestaltet als vor einigen Tagen.
Zur Erinnerung: "Der Gazastreifen wird von der israelischen
Armee und Administration schon seit Beginn der 90er Jahren -
lange bevor die Hamas eine nennenswerte Rolle spielte -
isoliert. Dadurch konnten die zivile Infrastruktur kaum
entwickelt werden. Die 18-monatige Blockade durch Israel - bei
stillschweigender Unterstützung vieler westlicher Regierungen -
hat die gesamte zivile Infrastruktur implodieren lassen", sagte
Tsafrir Cohen, der örtliche medico-Repräsentant.
Medizinische Nothilfe: Palestinian Medical Relief Society (PMRS)
Angesichts dieser akuten
Notlage versucht der medico-Partner Palestinian Medical Relief
Society (PMRS), der Bevölkerung Notdienste zur Verfügung zu
stellen. "Das Personal kommt ganz schlecht zur Arbeit, da die
israelischen Streitkräfte tief in den Gazastreifen eingedrungen
sind. Auch wir als Gesundheitspersonal sind erheblich gefährdet,
niemand scheint auf uns Rücksicht zu nehmen", sagte Dr. Aed
Yaghi, Programmleiter der PMRS. Mit Hilfe von medico und vier
Schweizer Organisationen (Caritas, Kinderhilfe Bethlehem, medico
Schweiz & Kampagne Olivenöl), die gemeinsam 150.000 Euro zur
Verfügung stellen konnten, ist PMRS in der Lage,
Erste-Hilfe-Kits zu verteilen. Dabei werden diese an die eigenen
Mitarbeiter verteilt, an Journalisten, an kommunale Mitarbeiter,
die sich daran machen, das stark beschädigte Stromnetz und die
Wasserversorgung zu reparieren, sowie an die Hunderte von
PMRS-Freiwilligen, die ihr Leben auf der Straße riskieren.
Während die eine
PMRS-Klinik in Izbet Beit Hanun noch immer geschlossen bleiben
muss, da sie dort von der israelischen Armee behindert wird, hat
die Klinik in Um Al-Nasser wieder geöffnet. Die Klinik in
Jabalia im Norden des Gazastreifens hat 24 Stunden am Tag
geöffnet. Dort gibt es 400% mehr Patienten als sonst.
Seit dem Beginn der
Bombardements leistet die medico-Partnerorganisation PMRS
medizinische Nothilfe im Gazastreifen. Ihre Mitarbeiter und
zahlreiche Freiwillige arbeiten rund um die Uhr in drei
Schichten. Sie versorgen Verwundete und bringen sie in die
Krankenhäuser. Manchmal kommen sie zu spät. Dann bleibt ihnen
nur noch das Aufsammeln von Körperteilen und die Bergung von
Leichen. Sozialarbeiterinnen betreuen die Angehörigen der vielen
Toten und Verletzten.
Viele Gebiete im
Gazastreifen sind durch die Bodenoffensive von den
Gesundheitseinrichtungen abgeschnitten. Zwei sechsköpfige Teams
behandeln Verwundete mit mobilen Kliniken, dort wo es keinen
Zugang zu medizinischer Versorgung gibt. Viele Menschen, vor
allem Mütter mit Kindern oder alte, chronisch kranke Menschen
haben Angst, ihre Wohnungen zu verlassen und müssen zu Hause
versorgt werden. Mitarbeiter der PMRS bieten außerdem
Erste-Hilfe-Kurse an und bilden derzeit 330 Freiwillige aus.
Da die regulären
Krankenhäuser aufgrund der vielen Verwundeten vollkommen
überfordert sind und derzeit chronisch Kranke, Herzpatienten
oder Schwangere abweisen müssen, sind auch alle
Gesundheitseinrichtungen der PMRS überlastet, da sie zusätzlich
versuchen, deren Versorgung mit zu übernehmen. Dennoch wurden
drei PMRS-Ärzte an das Shifaa’ Krankenhaus in Gaza ausgeliehen,
da dort die am schwersten Verletzten eingeliefert werden.
Politischer Druck: Physicians for Human Rights (PHR-IL)
Aber auch die israelische
medico-Partnerorganisation Ärzte für Menschenrechte (PHR-IL) ist
aktiv. Sie übt politischen und juristischen Druck auf die
israelische Regierung aus.
Am Freitag, den 9. Januar
verhandelte der Oberste Gerichtshof in Jerusalem eine Petition
der PHR-IL und fünf weiterer israelischer
Menschenrechtsorganisationen. Sie fordern, dass die Verwundeten
aus dem Gazastreifen unverzüglich in Israel behandelt werden
dürfen. Es kam jedoch noch zu keiner Entscheidung, da das
Gericht der israelischen Regierung vier Tage Zeit für eine
Stellungnahme einräumt. Hadas Ziv, die Geschäftsführerin der
PHR-IL reagierte empört: „Vier weitere Tage kosten
Menschenleben. Wenn es so weiter geht, wird jede halbe Stunde
ein Palästinenser umgebracht und alle sechs Minuten einer
verwundet.“ Notwendig sei ein sofortiger Waffenstillstand um die
Verletzten zu bergen und behandeln zu können.
Die aktuelle Stimmung in
der israelischen Gesellschaft macht Hadas Ziv zu schaffen. Sie
berichtet von einer neue Qualität des Hasses gegen die
Palästinenser: „Ältere Menschen kannten wenigstens noch
Palästinenser. Dies hat sich durch die israelische
Trennungspolitik und den Aufbau eines Enklavensystems verändert.
Die jungen Menschen in Israel kennen Palästinenser nur noch
durch die Medien und durch Zielfernrohre. Sie nehmen sie nicht
mehr als Menschen wahr. Folglich können wir sie beschießen, als
ob sie keine Menschen wären.“
PHR-IL dokumentiert und
recherchiert auch die Verstöße des israelischen Militärs gegen
internationales humanitäres Recht. So machten sie schon mehrere
Vorfälle öffentlich, bei denen Sanitätern der Zugang zu
Verwundeten verwehrt wurde.
Israelische Künstler gegen den Krieg produzieren Sondermagazin
unter erschwerten Bedingungen
24 Stunden nach Beginn des
Bombardements zirkulierte im israelischen Internet ein Aufruf an
israelische Dichter, Schriftsteller, Künstler, Material gegen
den Krieg zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Der Aufruf
stammte von mehreren kritischen Medienpublikationen, darunter
auch vom Magazin Sedek der Gruppe Zochrot, ein medico-Partner
(dazu siehe Blog: Nakba, oder die Lücke)
Zwei Tage, nachdem der
Aufruf die Runde machte, hatten die Initiatoren etwa 300 Texte
beisammen. Am Neujahrsabend saßen die sechs
Zeitschriftenredakteure zusammen, um die Texte zu begutachten.
36 Stunden ohne Pause wählten sie Arbeiten von 67 schreibenden
und bildenden Künstlern aus. Danach wurden die Texte zu einer
Druckerei gebracht. Keine israelische Druckerei war bereit, die
Publikation zu drucken, also wurde der Band in einer
arabisch-israelischen Dorfdruckerei produziert. Nach dieser
Blitzaktion und nur 4 Tagen war das Buch fertig und konnte -
gegen Spenden - verteilt werden.
"Ein Gedicht kann die
Meinung eines Menschen nicht ändern. Eine Person, die für den
Krieg ist, wird nach dem Lesen eines traurigen oder fröhlichen,
hoffnungsvollen oder bitteren Gedichts nicht gegen den Krieg
opponieren. Die Gedichte zu schreiben, sie zu sammeln, zu
redigieren und in so kurzer Zeit zu drucken war ein spontaner
Protestakt gegen die israelische Attacken auf Gaza und Israels
Vernachlässigung der eigenen Bürger im Süden des Lands - um
Gaza. Während ich dies sage, gilt jede Opposition gegen den
Krieg als Verrat. Wir werden die Meinung von Menschen nicht
ändern, aber die Tatsache, dass wir so schnell und so zahlreich
agiert haben, zeigt, dass es so eine Position gibt, nicht in
irgendeinem Wohnzimmer, sondern im öffentlichen Raum. Dies kann
ein alternativer Standpunkt sein, eine alternative Option, für
die, die eine solche suchen". Das schreibt Tomer Gardi, der
Redakteur von Sedek in seinem Vorwort. "Gewalt ist sehr
effektiv. Viele der Druckereien wollten das Buch drucken, hatten
aber Angst vor eingeworfenen Fensterscheiben danach. Dennoch:
Das Band ist raus und ist eine starke Stimme gegen den Krieg,
die nur stärker werden kann."
Tsafrir Cohen,
Repräsentant von medico in Israel & Palästina betont die
Bedeutung solcher künstlerisch-kritischen Projekte im
öffentlichen Raum in Israel: "Zochrots Strategie ist eine
langsame Annäherung, ein langsamer Verständigungsprozess, in
dessen Verlauf jüdische Israelis den Ort, in dem sie leben,
besser verstehen sollen. Die spontane Reaktion auf den Krieg in
Gaza soll eine Ausnahme bleiben, die den Machern notwendig
erschien angesichts des Kriegs, den sie als 'Krieg Israels gegen
das palästinensische Volk' wahrnehmen."
Kollaps: Lage im Gazastreifen
Die Angriffe der
israelischen Armee haben im Gazastreifen eine Situation
geschaffen, welche das durch die anderthalb-jährige Blockade
geschwächte Gesundheitssystem kaum noch bewältigen kann. Israels
Schließung sämtlicher Zugänge von und nach Gaza verschärft die
humanitäre Tragödie, die das Leben im Gazastreifen bestimmt.
Selbst
Gesundheitseinrichtungen werden immer wieder beschossen.
Israelische Artillerie zerstörte am 10.1.09 die nördliche Mauer
des European Gaza Hospital. Durchtrennte Wasserleitungen führten
zu einer Beschädigung des Haupt-Generators und einem
Stromausfall. In der Nacht des 9.1.09 wurden die
Basisgesundheitszentren Sabha Al Harazin und Hala Al Shawa
ebenfalls durch Artilleriefeuer beschädigt.
Auch Krankenhäuser werden
nur vier bis fünf Stunden täglich mit Strom versorgt und sind
auf Generatoren angewiesen. Nach den jüngsten Hilfslieferungen
reichen die Kraftstoffvorräte nun schätzungsweise wieder weitere
fünf Tage.
Durch die Zerstörungen der
Militärangriffe sind viele Menschen von der Trinkwasser- und
Stromversorgung abgeschnitten. Die Abwasserentsorgung ist
beeinträchtigt. Nahrungsmittel sind knapp und während der
täglichen, dreistündigen Waffenruhe bilden sich lange Schlangen.
medico international
fordert deshalb gemeinsam mit seinen Partnerorganisationen, den
israelischen Ärzten für Menschenrechte und der Palestinian
Medical Relief Society einen sofortigen, beiderseitigen
Waffenstillstand und den freien Zugang für humanitäre Güter,
Waren und Personen in den Gazastreifen und hinaus.
Aktion jüdischer und arabischer Ärzte aus Israel für Gaza
medico international: zunehmende Traumatisierung der Bewohner
von Gaza
Unterstützt durch eine
gemeinsame Aktion von jüdischen und arabischen Ärzten und
Mitarbeitern des Gesundheitsdienstes versucht ein
Lebensmittel-Konvoi aus Israel am morgigen Freitag, den 16.
Januar, in den Gaza-Streifen zu gelangen, das teilte die
sozialmedizinische Hilfsorganisation medico international mit.
Organisiert wird die
Solidaritätsaktion "mit den Bewohnern von Gaza und dem Süden
Israels" von dem israelischen medico-Partner "Ärzte für
Menschenrechte". Gefordert werden eine sofortige Waffenruhe und
eine politische Lösung, um die Besetzung zu beenden.
Tsafrir Cohen,
medico-Vertreter in Ost-Jerusalem, erklärt, dass die humanitäre
Situation im Gaza-Streifen trotz der täglichen Feuerpausen nach
wie vor unerträglich sei. "Es gelingt uns mit unseren
palästinensischen Partnern medizinische Güter und Geräte in den
Gaza-Streifen zu transportieren, doch trauen sich die Menschen
nicht auf die Straße. Und wenn, dann um sich in langen Schlangen
um Nahrungsmittel zu bemühen."
Am 20. Tag des Krieges
wächst die Verzweiflung unter den Menschen in Gaza. Dr.
Abdalhadi Abu Khousa, einer der führenden Vertreter des
medico-Partners "Palestinian Medical Relief Service" beschreibt
die Situation so: "Was Sie im Fernsehen sehen, ist nur ein
Bruchteil der Realität hier: Die Menschen haben hier Panik, sie
haben Angst um ihre Familien, 24 Stunden am Tag. Niemand hat
hier länger als ein paar Stunden geschlafen. Niemand denkt über
Hamas, über Fatah oder Lösungen nach, es geht ums schiere
Überleben: Wo kriege ich Brot für meine Kinder? Werden wir die
Nacht überleben?"
medico international hat
bislang Hilfe in Höhe von 150.000 Euro aus Spenden und Mitteln
von Schweizer Nichtregierungsorganisationen im Gaza-Streifen
leisten können. Neben medizinischer Hilfe sind mittlerweile auch
8 Sozialarbeiterinnen unterwegs, um Kriegstraumatisierte zu
betreuen.
Die medico-Mitarbeiter Tsafrir Cohen und
Bernd Eichner begleiten morgen den Konvoi für den
Gaza-Streifen und stehen vor Ort für Interviews zur
Verfügung.
Tel: 00972 54907291 oder 00972 54 6539790
Für die Nothilfe
im Gazastreifen bittet medico international weiterhin dringend
um Spenden.