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Und das Land schwieg 40 Jahre lang
B. Michael , Yedioth Aharonot, Juni 2007

 

Ich möchte die 40 Jahre Besatzung zusammenfassen. 40 Jahre Sklaverei, Versklavung, Zerstörung, Verlust der Orientierung und des gesunden Menschenverstandes. Aber anstelle von all diesem zu erzählen, will ich eine Geschichte erzählen, die absolut wahr ist. Es ist eine Geschichte, die weitergeht und  genau jetzt geschieht.

 

Tomar Sami Ali Cusabah wurde 1988 geboren. Er war ein Sohn  von Sami und Fatma Cusabah aus dem Kalandia-Flüchtlingslager. Sie hatten sieben Kinder.

 

Im Dezember 2001 tötete ich Yassir, Tomars jüngeren Bruder. Nicht mit meinen eigenen Händen. Aber ich kann nicht leugnen, dass die Kugel, die ihn damals tötete, mit meinem Steuergeld bezahlt wurde. Es war eine „Gummikugel“ – nicht eine Gummikugel, mit der Kinder spielen, sondern eine Gummikugel, mit der Kinder in Uniform spielen.

 

Yassir kämpfte 8 Tage um sein Leben – dann gab er auf. Er war knapp 11 Jahre alt.

 

Kaum einen Monat später schoss ich  auf Samer, Tomars großen Bruder. Auch diesmal schoss ich nicht mit meinen eigenen Händen. Und obwohl es diesmal eine richtige Kugel war und diese nicht als Gummikugel verkleidet war, ging Samer durch sechs qualvolle Tage. Am 25. Januar  2002 tat er seinen letzten Atemzug. Er war noch nicht 15 Jahre alt., als er starb.

 

Innerhalb 40 Tagen wurden Yassir und Samer in der Erde ihrer Heimat begraben. Zwei Kinder, zwei Brüder. Tot – einfach so. Kein Grund, keine Erklärung.

 

Das Leben geht weiter. Die Trauer und der Tod sind sicherlich keine ungewöhnlichen Gäste in Kalandia. Fatma behauptet, sich zu erholen; denn die anderen Kinder brauchen die Mutter. Sami, der Vater, zog sich zurück und wurde immer schwächer. Als ob die Jahre der Kinder sich dem Alter des Vaters hinzugefügt hätten. Er altert vor der Zeit.

 

Auch Tomars Leben ging weiter. Alles um ihn herum  war Sturm, Tod und Bosheit – aber nichts davon berührte ihn direkt. Er  bewahrte seine Seele, hielt sich von all  der Unruhe zurück. Er saß nicht im Gefängnis, war keiner der „Gesuchten“.

 

Als er 18  war, verlobte er sich. Und obwohl es nicht viele Arbeitsplätze im Lager gibt, fand er Arbeit im „Yaffa-Supermarkt“. Ein halbes Jahr lang kam er jeden Nachmittag und blieb bis der Markt geschlossen wurde, manchmal bis 2 Uhr nachts. Er sortierte die Waren, belud Kisten und Körbe, nahm die Waren an, organisierte und war ständig am Reinigen.

Am letzten Shabbat, am 2. Juni, früh am Morgen, als er gerade fertig war, die Waren in den Vorratsraum zu bringen und mit einem Schlauch dastand, um die Treppe zu reinigen, traf ihn ein Schuss in den Rücken.

 

Wie gewöhnlich schoss ich nicht mit eigener Hand. Ein „Soldat in Aktion“ war es. Die Kugel durchbohrte  seinem Rücken, zerriss innere Organe und kam in der Magengegend wieder heraus. Tomar brach zusammen. In der Dunkelheit kamen Soldaten, stellten sich um ihn und schlugen ihn, bis ihr Kommandeur kam und sie davon abhielt. Sein Leben hing an einem seidenen Faden. Tomar kam in die Unfallstation des Hadassah-Krankenhauses. Seine Eltern wurden benachrichtigt.

Aber eine Erlaubnis, diese widerliche „Tasrich“,  ein Papier, das über Leben und Tod der Einheimischen bestimmt, wurde den Eltern nicht gesandt. Der kleine Angestellte am Schalter entschied, seiner Mutter sei es nicht erlaubt, die Hand ihres Sohnes  zu halten, während er um sein Leben kämpft und dem Vater sei es nicht erlaubt, die Türklinke des Operationsraumes zu halten. Allein und verlassen wird er in seinem Bett liegen und sich seine Gedanken darüber machen, warum er  in den Rücken geschossen wurde.

 

Nur auf drängende Bitten bekam die Mutter schließlich  für kurze Zeit einen „Tasrich“. Sein Vater erhielt keine Genehmigung. So bestimmte es der Sicherheitsdienst.

 

Als Fatma im Krankenhaus ankam, wurde sie von zwei Soldaten empfangen, die auf beiden Seiten des Bettes ihres Sohnes standen. Sie warfen sie raus. Das Militär erlaubt ihr nicht, neben ihrem Sohn zu sitzen. Hilflos saß sie im Korridor und musste bald gehen; denn die Genehmigung war für diesen Tag schon abgelaufen.

 

Am nächsten Tag bat sein Onkel darum – er hat eine blaue Identitätskarte – den verletzten Jungen zu sehen, der gerade seine Augen geöffnet hatte. Der Soldat, der dort stand. Ein idiotisches Kind in Uniform, ein kleiner Sklave, der vorübergehend Macht erhalten hat, stieß ihn fluchend hinaus. Danach fesselte er Tomar mit Handschellen an sein Bett. Ich beschwöre es. Er nahm metallene Bänder und kettete den schwer verletzten Jungen in seinem Bett an, der schon  an vielen Kanülen … und am Beatmungsgerät hing. Das war die Strafe für die Arroganz  seines Onkels.

 

Mittlerweile kam die Mutter zurück. Sie stand blass vor dem Krankenzimmer und weinte.

 

Erst nachdem die  ganze Welt auf den Kopf gestellt wurde, verstand jemand die Tiefe dieses schlimmen Geschehens. Der Soldat erhielt den Befehl, die Fesseln zu lösen. Er wurde abgelöst. Er tat, wie ihm befohlen wurde, doch nicht bevor er die Mutter mit unflätigen Flüchen überschüttet hat. Schließlich konnte Fatma neben dem Bett ihres Sohnes sitzen.

 

Vielleicht wird Tomar nach einem Monat aus dem Krankenhaus entlassen und weitere  sechs Monate ein  medizinisches Gerät mit sich tragen müssen. Vielleicht werden seine Organe irgendwann wieder  richtig funktionieren.

 

Vielleicht wird – so Gott will – das „Sicherheitssystem“ einmal den Versuch unternehmen, ihn in irgend einen  ausgedachten Komplott mit zu verwickeln, um seine eigene Haut zu retten. Dies ist  im Nachhinein die Reaktion der Armee, um ihre Fehler zu korrigieren. So werden die Opfer zu Schuldigen gemacht. So werden im Nachhinein abgegebene Schüsse gerechtfertigt und denen, die angeschossen wurden, die Schuld gegeben.

 

Wenn dies eine jüdische Mutter gewesen wäre, die zwei Kinder verloren hat und dann einen verletzten Sohn pflegt – sie wäre eingeladen worden, um eine Gedenkfackel zu entzünden. Der Vater wäre ein Gast des Ministerpräsidenten gewesen und die Zeitungen wären voll gewesen von Bewunderung und Empathie. Und vor 40 Jahren – selbst wenn es eine arabische Mutter gewesen wäre, hätte die Öffentlichkeit großes Mitgefühl gezeigt, die Armee hätte große Probleme gehabt und die Presse hätte einen Sturm ausgelöst.

 

Aber nun sind  40 Jahre  vergangen – drum interessieren solche banalen Dinge  keinen  mehr. Na und?  Also schießen sie weiter auf andere unnötige Kreaturen. 

 

Das ist die Geschichte. Es ist nicht  nur die Geschichte von Tomar Cusabah und seiner Familie, sondern die Geschichte von 40 Jahren Besatzung. Jahre, in denen wir uns an die Verachtung und Niederträchtigkeit der Anschauung der Besatzung gewöhnt haben: an die Haltung, nichts zu sehen, nichts zu hören und nichts zu sagen. Eben nur wegzuschauen. Nicht einmal zu riechen, was in unserm Namen geschieht. Nur einfach still zu sein.

 

Aber  um Himmels willen sage mir doch keiner, dass wir unser  göttliches Ebenbild verloren haben!

Sieh doch – hier sind z.B. die Flüchtlinge von Darfur, die uns nachts nicht schlafen lassen.

Sind wir nicht bewundernswert?

 

(dt. Ellen Rohlfs)

 

 

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