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Heilige Mantras
Uri Avnery, 25.Juni 2011
DIE PALÄSTINENSER planen etwas Widerwärtiges: sie
beabsichtigen sich an die UN-Vollversammlung zu wenden wegen eines
eigenen Staates.
Warum ekelhaft? Jeder israelische Sprecher (ganz
zu schweigen von Sprecherinnen) wird euch prompt antworten: weil es
ein „einseitiger“ Schritt ist. Wie können sie es wagen , einseitig
einen Staat auszurufen? Wie können sie es wagen, ohne die Zustimmung
der anderen Partei des Konfliktes – also uns?
Einer, der es mit Details genau nimmt, könnte an
diesem Punkt fragen: „Aber war der Staat Israel nicht auch einseitig
proklamiert worden?“ Es mag daran erinnert werden, dass unser Staat
von David Ben-Gurion und seinen Kollegen am 14. Mai 1948 erklärt
wurde – ohne jemanden zu fragen.
Aber wer wagt es, zu vergleichen ?
Außerdem wenden sich diese niederträchtigen
Palästinenser direkt an die UN-Vollversammlung und versuchen den
UN-Sicherheitsrat zu umgehen, wo die US mit ihrem Veto sie
blockieren könnten. Was für ein schmutziger Trick!
Aber Moment mal! War der Staat Israel nicht auf
Grund einer von der UN-Vollversammlung angenommenen Resolution
proklamiert worden? Um genau zu sein: die Resolution 181 vom 29.
November 1947 über die Teilung Palästinas in einen arabischen und
einen jüdischen Staat.
Tatsächlich ist diese Resolution noch immer in
Kraft/. Sie diente als Kernstück von Israels
Unabhängigkeitserklärung und dient jetzt als Grundlage für die
palästinensische Forderung, dass der Staat Palästina als
vollberechtigtes Mitglied der Vereinten Nationen akzeptiert werde.
Aber noch einmal, wie kann man nur vergleichen?
KURZ GESAGT – die Palästinenser müssen für ihre
unverschämte Bemühung, zu „einseitigen“ Aktionen zu greifen,
verurteilt werden. Binyamin Netanyahu sagt es. Barack Obama sagt
dasselbe. Auch Hillary Clinton und Angela Merkel. Es ist zu einem
Mantra geworden.
Ein weiteres Mantra. Man hätte denken können,
dass die israelisch-palästinensische Arena so voller Mantras ist,
dass es keinen Platz mehr gibt. Aber es gibt noch Platz.
Shlomi Avineri, ein sehr geachteter zionistischer
Professor, hat eines der ältesten Mantras ans Licht geholt. In einem
Artikel „Narrative und Wahrheit“ behauptet er kürzlich, dass es zwei
Narrative über den Konflikt gibt, aber nur eine Wahrheit. Die
Wahrheit besteht aus unanfechtbaren Tatsachen.
Zum Beispiel gibt es mehrere Narrative über die
UN-Teilungsresolution, aber nur eine Wahrheit. Und zufällig stimmt
die Wahrheit mit der israelischen Narrative überein, die zu einem
heiligen Mantra wurde.
Es ist folgendermaßen: 1947 akzeptierte die
zionistische Führung den UN-Teilungsplan, und die palästinensischen
Araber wiesen ihn zurück. Stattdessen griffen sie die jüdische
Gemeinschaft im Lande an und wurden später von den regulären Armeen
der benachbarten arabischen Staaten unterstützt. Sie wollten uns ins
Meer werfen. Sie verloren den Krieg und zahlten den Preis.
Tatsachen? Unanfechtbar? Na, ja …
ES IST tatsächlich ein Faktum, dass die
zionistische Führung – formell - den Teilungsplan akzeptierte. Viele
zionistische Führer waren dagegen, aber wurden von David Ben-Gurion
überzeugt, mit der offiziellen Akzeptanz einverstanden zu sein. Doch
bei mehreren geheimen Treffen machte Ben-Gurion ihnen klar, die
Teilungsgrenzen seien unannehmbar und müssten bei der nächstbesten
Gelegenheit verbessert werden. Die Protokolle dieser Treffen können
von allen eingesehen werden.
Die andere Seite des Mantras – „Die
palästinensischen Araber wiesen sie zurück“ - ist komplizierter. Es
gab ja keine demokratisch gewählte palästinensische arabische
Führung. Bei dem arabischen Aufstand von 1936-39 wurde die arabische
Führung – so wie sie war – zerstört, teils von den Briten, aber vor
allem von dem führenden palästinensischen Anführer, dem Großmufti
Hajj Amin Al-Husseini. Er hatte die meisten seiner Konkurrenten
umbringen lassen.
Während des 2. Weltkrieges floh Hajj Amin nach
Nazi-Deutschland, und der Rest der Führungsleute wurde von den
Briten deportiert. Nach dem Krieg blieb der diskreditierte Großmufti
im Ausland. Ein entfernter Verwandter stand dem sog. „Arabischen
Hohen Komitee“ vor, das nicht gewählt war und kaum Wurzeln in der
Bevölkerung hatte. Es existierte einfach keine wirksame
palästinensische Führung.
Keiner fragte die arabischen Palästinenser, ob
sie irgendetwas akzeptieren oder zurückweisen würden. Wenn sie
gefragt worden wären, würden sie wahrscheinlich die Teilung
zurückgewiesen haben, da - ihrer Ansicht nach – sie einen großen
Teil ihrer historischen Heimat an Ausländer abgeben müssten. Um so
mehr, da den Juden, die zu dieser Zeit nur ein Drittel der
Bevölkerung ausmachten, 55% des Landes zugeteilt wurden – und die
Araber sogar dort 40% der Bevölkerung ausmachten.
Die Regierungen der arabischen Staaten wiesen die
Teilung zurück, aber sie vertraten die palästinensischen Araber
nicht, die damals noch unter britischer Herrschaft standen (Genau
wie wir).
Tatsächlich gab es während des Krieges 1948 keine
wirksame vereinigte palästinensisch-arabische Führung noch gab es
etwas, was entfernt einer vereinigten palästinensischen Kampfkraft
ähnelte.
Man kann diese Tatsachen interpretieren wie man
will – aber sicher geben sie kein klares Bild zu „die Zionisten
akzeptierten, die Palästinenser wiesen ihn zurück.“
Doch ist dieses Mantra endlos in
Zeitungsartikeln, TV-Talk-Shows und politischen Reden als
selbstverständliche Wahrheit wiederholt worden. Prof. Avineri ist
nur einer von einer Legion israelischer Propagandisten, die es
wiederholen.
EIN ANDERES Mantra , das als unanfechtbare
Wahrheit hingestellt wird, sind die 750 000 ursprünglichen
palästinensischen Flüchtlinge, die 1948 ihre Häuser freiwillig
verließen, nachdem sie von der arabischen Führung aufgefordert
wurden, dies zu tun , um den Weg für die vorrückenden arabischen
Armeen frei zu machen.
Jeder Nachdenkliche, der dies hört, muss zu der
Schlussfolgerung kommen, dass dies totaler Unsinn ist. Keine
vorrückende Armee würde wünschen, dass eine freundlich gesinnte
Bevölkerung weggeht. Im Gegenteil. Natürlich wurde keinerlei Beweis
für diese Behauptung je entdeckt. (da mag es einige Zweifel über
lokale Ereignisse während der Eroberung der arabischen Stadtteile
von Haifa gegeben haben, aber sie verändern das Gesamtbild nicht).
Dieses Mantra basiert auf der Idee , dass in
Kriegszeiten alle Menschen auf der Verliererseite ihr Land, ihr Haus
und ihren Besitz einbüßen. Dies mag in biblischen Zeiten so gewesen
sein, aber im 20. Jahrhundert reflektiert es nicht das Völkerrecht
oder die allgemeine Moral.
Es mag viele verschiedene Meinungen darüber
geben, wie man dieser Tragödie ein Ende setzt. Die palästinensische
Flüchtlingsbevölkerung ist inzwischen auf über fünf Millionen
angewachsen. Die Landschaft hat sich vollkommen verändert. Sehr
wenig Leute, einschließlich Palästinenser, glauben an eine Rückkehr
der Flüchtlinge en masse. Aber das ändert nicht die Tatsache, dass
das Mantra hohl klingt. Es ist nicht einmal mehr gute Propaganda.
EIN NEUES Mantra wird jetzt verbreitet. Binjamin
Netanyahu hat es in einfache Worte gefasst: „Der Konflikt ist
unlösbar“. Viele geachtete Personen, einschließlich prominenter
Universitätsprofessoren, wiederholen es jetzt täglich.
Ich erinnere mich an einen verstorbenen Freund,
Samuel Merlin, ein Mitglied der ersten Knesset. Er nahm 1970 an
einer öffentlichen Debatte mit Professor Yehoshafat Harkabi teil,
einem früheren Chef des militärischen Nachrichtendienstes. Während
der Ära der Euphorie zwischen den 1967er und 1973er Kriegen war
Harkabi ein fanatischer Araberhasser (nach 1973 bereute er und wurde
ein entschlossener Friedensaktivist).
Als Merlin dran kam, um auf Harkabis Argumente zu
antworten, sagte er : „Ich achte Professor Harkabi sehr, aber um
solche Ansichten zu haben, muss man kein Professor sein,
es könnte irgend jemand auf der Straße sein.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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