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Uri Avnery

 

 

 

Der große Bahnskandal
Uri Avnery, 10.September 2016

 

ICH BIN nicht der neidische Typ, aber ich beneide die Deutschen.

Ich beneide sie um Angela Merkel.

Merkel tat etwas, das völlig gegen ihre politischen Interessen ist. Sie öffnete die Tore Deutschlands für fast eine Million Flüchtlinge, meistens Muslime,  viele aus dem kriegszerrissenen, blutigen Syrien.

Kein Volk, nicht einmal ein Volk von Engeln oder Angelas, kann eine Million Ausländer  ohne einige Befürchtungen absorbieren. Doch Merkel hat die Moral und den politischen Mut, das Risiko zu übernehmen.

Nun  leidet sie an den Folgen.

IM STAAT Mecklenburg-Vorpommern, einem der Komponenten der deutschen Bundesrepublik und Merkels eigenem Heimat-Staat, hat sie  einen erschütternden Schlag  erlebt. In den Wahlen des  ganzen Bundesstaates ist ihre Partei auf  Platz 3 gerutscht, nach der SPD und der sehr Rechten (AFD). Eine verheerende Niederlage,  die bedeuten könnte, dass Merkel bei den nächsten Wahlen aller Bundessstaaten die Macht verliert.

Die Kanzlerin (mein PC besteht darauf, dass es solch ein Wort im Englischen nicht gibt). Ist keine dumme Person. Sie wusste, dass sie und ihre Partei für ihre Entscheidungen  - die Flüchtlinge betreffend  - einen hohen  Preis  zahlen mag. Sie tat es trotzdem.

Es stimmt, dass sie auch banale Gründe gehabt haben könnte. Deutschen sind ein gealtertes Volk. Keine Religion sagt ihm, mehr Kinder zu produzieren als sie es tun. Deutschland benötigt mehr Arbeiter. Es benötigt auch mehr Steuerzahler, so dass  der Staat seinen alten Leuten großzügigere Renten zahlen kann.

Trotzdem würde kein normaler Politiker nach seinem (oder ihrem) Verstand so eine große Menge von menschlichem Elend herein lassen, und kein anderer Politiker in Europa tat dies. Um dies zu tun, braucht man einen sehr hohen Standard  moralischer Überzeugung. Unter  Politikern ist solch eine Art von hohem moralischem  Standard nicht bekannt. Das ist tatsächlich sehr selten.

Wie die Deutschen sagen: Alle Achtung. Aller Respekt vor ihr

VOR VIELEN Jahren las ich einen bemerkenswerten Satz  an der Klagemauer in Köln. Nahe dem Eingang zum Kölner Dom, der großartigen Kathedrale von Köln, gab es eine große Plakatwand. Man wurde eingeladen seine Gedanken und Klagen auf ein Blatt Papier zu schreiben und anzuheften. Eine der Notizen lautete: „Wir wollten Arbeiter, fanden aber heraus, dass wir Menschen hereinholten.

Dies geschieht jetzt in Deutschland wieder, als auch in andern europäischen Ländern, die eine viel kleinere Anzahl herein ließen.

Deutschland hat keine Tradition von  großen herrschenden Frauen, wie Elisabeth die erste von England, Maria Theresa  von Österreich, und Katharina die Große von Russland (die eine Deutsche war).

Angela Merkel, die Tochter eines christlichen Pastors, erscheint mir als mutige, moralische, hartnäckige Frau. Wenn ich einen Hut tragen würde  - kein säkularer   Israeli  trägt einen – dann würde ich ihn abnehmen.

ABER DIESES Zeichen der Anerkennung wird ausgeglichen durch meine  Empörung, die ich für die Partei empfinde, die  sie bei der mecklenburgischen Wahl  geschlagen hat.

Die AFD, die den zweiten Platz im Staat erreichte, ist genau die Art von Partei, die ich in jedem Land  verabscheue.  Eine politisch weit rechts stehende, populistische, in  demagogische Partei.

Ich wurde in Deutschland geboren, heute vor 93 Jahren, als ein lächerlicher Demagoge einen Putsch in München zu machen versuchte. Er wurde von der Polizei  und der Reichswehr nieder geschlagen. Die Leute, die Adolf Hitler folgten, waren damals dieselben wie die Mecklenburger, die jetzt politisch ganz rechts stehen.

Adolf Hitler kam schließlich an die Macht, begann einen Weltkrieg, der vielen Millionen das Leben kostete und Deutschland zerstörte (ganz abgesehen vom Holocaust).  Ich war mir sicher, dass so etwas  nie mehr in Deutschland geschehen kann. Überall sonst, sogar in Israel, aber nicht in Deutschland. Die Deutschen haben ihre Lektion gelernt. Niemals wieder.

Wie kann eine weit rechts stehende, rassistische, fremdenfeindliche Partei  einen (wenn auch)bescheidenen  Wahlsieg erringen? Selbst wenn man  vermutet, dass Hitler und seine Nazis  einzigartig waren, so ist dies ein sehr beunruhigendes Phänomen. Man muss keinen tief sitzenden  jüdischen Komplex haben, um zu sehen, wie ein rotes Licht angeht?  Ich gebe zu, verwundert zu sein und auch  ein bisschen beunruhigt.

Ich habe das Hochkommen der Nazis während meiner Lebenszeit gesehen.  Ich erwarte nicht, so etwas Ähnliches (selbst weit entfernt) während ich lebe,  zu sehen.

Noch  ist Angela Merkel an der Macht und sie scheint, entschieden ihren Sternen und ihrer Politik zu folgen.

Wie ich sagte, ich beneide ihr Volk.

ICH GLAUBE nicht, dass jemand in der Welt Israel wegen Benjamin Netanjahu beneidet.

Tatsächlich könnte ich mir einen Politiker vorstellen, der genau das Gegenteil von Angela  Merkel ist, dann würde es Benjamin Netanyahu sein.

Merkel ist eine moralische Heldin, Netanjahu ist ein moralischer Feigling.

Dies wurde in einer politischen Farce gezeigt, die Israel in den letzten paar Tagen erschüttert hat:  der große Schabbat-Skandal der Bahn.

Israel ist  offiziell ein „jüdischer und demokratischer Staat“.  Nun nicht ganz jüdisch und nicht ganz demokratisch, doch  das macht nichts.

Weil es ein jüdischer Staat ist, ist Israel das einzige Land auf der Welt, das an Schabbat  - der von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Erscheinen von drei Sternen am Samstagabend kein öffentliches Verkehrsmittel hat (In Tel Aviv habe ich zu keiner Zeit seit meiner Kindheit Sterne gesehen.)

Warum?  Zwischen den beiden  Visionen der Zehn Gebote in der Bibel ist ein bemerkenswerter Unterschied.

In der ersten Version (Exodus 20) ist der Grund göttlich. „ Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht … und ruhte am 7. Tag.“

Aber in der 2. Version (Deuteronomium 5 )  ist der Grund rein sozial : „dass dein Sklave  sich so ausruhen  kann wie du.  Und  denke daran, als du  Sklave  im Land der Ägypter warst.“  (Im hebräischen Original  steht „Sklave“, die Übersetzung sagt „Knecht“.

 Die meisten von uns sind Atheisten und mögen den Schabbat auch  - das Land ist ruhig,  die meisten von uns können sich ausruhen und/oder sich  amüsieren. Aber  da gibt es noch den Rub ??? wie Hamlet, kein Jude, sagt. Wie kann eine arme Person, die keinen privaten Wagen hat, die Küste erreichen oder an den See Genezareth im Norden und an das Tote Meer im Osten, oder das Rote Meer  weit im Süden kommen?

Er kann nicht. Er bleibt zu Hause und verflucht die Rabbiner.

Die Rabbiner  sind in der Regierungskoalition. Die politisch Rechte hat ohne sie nicht genug Stimmen. Noch hat die Linke genug Stimmen. Also müssen sie bestechen. Deshalb gibt es kein Transportmittel. Das Abkommen gründet sich auf etwas, das sich Status Quo  nennt, nicht im biblischen Hebräisch, sondern auf Lateinisch. Es bedeutet „Der Staat, der“, abgekürzt für den Staat,der vorher  (vor dem Krieg existierte)“  In unserm Fall, die Situation, wie sie angeblich vor der Gründung Israels bestand.

Das Gesetz sagt, dass Juden am Schabbat nicht arbeiten sollen, erlaubt aber dem Minister für Arbeit gewissen Jobs auszunehmen, falls sie absolut notwendig  für eine moderne Gesellschafr sind – Wasser, Strom, Reparaturen, an Eisenbahnen und Ähnliches. Die orthodoxen Parteien sind für einen vernünftigen Preis (Geld für ihre Schulen, in denen nichts als heilige Texte gelehrt werden)  damit einverstanden.

Plötzlich geschah etwas Schreckliches. Es scheint, dass die ganze Zeit die Staatsbahn-Behörden an Schabbat wichtige Reparaturen durchführten. Die Rabbiner drohten damit, die Regierung zu stürzen.  So  gab Netanjahu am Freitag letzter Woche  10 Minuten vor Schabbat-Beginn nach und befahl , dass alle Arbeit an der Bahn sofort gestoppt werden.

Das verursachte Chaos. Der Verkehr wurde am Sonntag  auch angehalten, um für notwendige Reparaturen an einem Werktag zu erlauben.  Tohu wabohu.

Es muss bemerkt werden, dass die Eisenbahn in Israel keine große Rolle spielt. Öffentlicher Transport wird hauptsächlich  von Bussen ausgeführt. Die erste Eisenbahn wurde von den Türken gebaut, um die Pilgerfahrt nach Mekka zu erleichtern. Die Briten fügten währen des 2. Weltkrieges noch einiges hinzu, um ihre Truppen  leichternach Ägypten zu  transportieren.

Die Linie von Haifa nach Damaskus wurde ein Ziel für viele Scherze.  Eine Dame ruft dem Lokomotivführer zu:  „Eine Kuh folgt uns!“, auf dass der Mann ruhig erwidert: „ Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wird uns nicht überholen.“

Jetzt haben wir einen neuen Verkehrsminister, voller Ehrgeiz, der den Bahn-Dienst modernisieren möchte.  Er deutet auch an, dass  er schließlich wünscht, Netanjahu zu folgen. Netanjahu  liebt solche Leute nicht, die ihm folgen wollen – nicht jetzt, nicht in entfernter Zukunft, niemals.  Also nahm er diese Gelegenheit wahr, um den Minister zu sabotieren.

Die Krise erreichte das Oberste Gericht, das entschied, dass der Ministerpräsident keinen Kompetenzbereich hat, um die Bahn still zu legen. Nur der Arbeitsminister hat das Recht Genehmigungen  für Schabbat-Arbeit  auszustellen oder diese zu streichen.  So konnte Netanjahu einen tiefen Atemzug nehmen – es ist nicht mehr seine Verantwortung. Lass die Minister für Transport und Arbeit unter einander streiten.  Je mehr – desto besser.

Während dieser Woche folgte jeder dem Drama – werden die Bahnreparationen an Schabbat wieder aufgenommen oder nicht. Werden die armen Soldaten, denen erlaubt war, am Schabbat  zu Hause  zu bleiben, werden sie die Bahn benützen, um am Sonntag zurück zu ihrer Basis zu kommen?

Komisch, als ich Soldat war, und war ich  nie in Eile, um zu meiner Lager zu gelangen.

Es mag nun sein, wie es ist, Netanjahu hat noch einmal gezeigt, wie ein opportunistischer Politiker ohne viel Rückgrat, sich  leicht dem Druck  bei geringen Problemen beugt, um sich überhaupt  nicht  mit großen Problemen abzugeben.

Leider. Er ist keine Angela Merkel.

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

 

 

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