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Sehnsuchtsvolle Augen
Uri Avnery, 5. August 2017
DIE GANZE
Welt beobachtet mit angehaltenem Atem, während die Tage
vorübergehen. Dann die Stunden. Dann die Minuten.
Die Welt beobachtet, während der
verurteilte Mann, Muhammad Abu-Ali aus Qalqilia, auf seine
Hinrichtung wartet.
Abu-Ali war ein schuldig befunderner
Terrorist. Er hatte ein Messer gekauft und vier Mitglieder einer
Familie in der nahen jüdischen Siedlung getötet. Er hat allein in
einem Anfall von Zorn gehandelt, nachdem sein geliebter Cousin Ahmed
von israelischen Grenz-Polizisten während einer Demonstration
erschossen und getötet wurde.
Dies ist ein imaginärer Fall. Aber er
ähnelt sehr stark dem, was geschehen würde, wenn ein realer Fall,
der jetzt ansteht, seinen Lauf nehmen würde.
IN ISRAEL
gibt es keine Todesstrafe. Sie wurde während der ersten Jahre des
Staates abgeschafft, als die Exekution der jüdischen
Untergrundkämpfer (von den Briten „Terroristen“ genannt) noch immer
frisch in jedermanns Gedächtnis war.
Es war ein feierliches und festliches
Ereignis. Nach der Abstimmung ein ungeplanter Gefühlsausbruch: die
ganze Knesset erhob sich und stand eine Minute lang still. In der
Knesset sind solche Gefühlsausbrüche wie Klatschen verboten.
An diesem Tag war ich stolz auf meinen
Staat, der Staat, für den ich auch mein Blut vergossen habe.
VOR DIESEM
Tag waren zwei Leute in Israel hingerichtet worden.
Der erste wurde während der frühen
Tage des Staates erschossen. Ein jüdischer Ingenieur wurde
angeklagt, eine Information an die Briten weitergegeben zu haben,
die es den Arabern weitergaben. Drei militärische Offiziere bildeten
ein Militärgericht und verurteilten ihn zu Tode. Später stellte sich
heraus, dass der Mann unschuldig war.
Das zweite Todesurteil wurde über
Adolf Eichmann verhängt, einem österreichischen Nazi, der 1944 die
Deportation der ungarischen Juden ins Todeslager dirigierte. Er war
in der Nazi-Hierarchie nicht weit oben, nur ein
„Obersturmbannführer“ in der SS. Aber es war der einzige
Nazi-Offizier, mit dem jüdische Führer in direkten Kontakt kamen.
Nach ihrer Ansicht war er ein Monster.
Als er in Argentinien entführt und
nach Jerusalem gebracht wurde, sah er wie ein durchschnittlicher
Bankangestellter aus, nicht sehr eindrucksvoll und nicht sehr
intelligent. Als er zu Tode verurteilt wurde, schrieb ich einen
Artikel, in dem ich mich fragte, ob ich für die Hinrichtung war. Ich
sagte: „Ich wage nicht, ja zu sagen und ich wage nicht, nein zu
sagen.“ Er wurde gehängt.
EIN PERSÖNLICHES
Bekenntnis: Ich kann keine Küchenschabe töten. Ich bin auch nicht in
der Lage, eine Fliege zu töten. Das ist keine bewusste Aversion. Es
ist fast physisch.
Es war nicht immer so. Als ich gerade
15 Jahre alt war, schloss ich mich einer „terroristischen“
Organisation, der Irgun, an („nationale Militär-Organisation“), die
damals auf arabischen Märkten eine Menge Leute tötete,
einschließlich Frauen und Kinder, als Rache für das Töten von Juden
während der arabischen Rebellion.
Ich war zu jung, um selbst an diesen
Aktionen tätig zu werden, aber meine Kameraden und ich verteilten
stolz Flugblätter, die die Aktionen ankündigten. Also war ich ein
Komplize, bis ich die Organisation verließ, weil ich begann,
„Terrorismus“ abzulehnen.
Aber die wirkliche Veränderung meines
Charakters begann, nachdem ich im 1948er-Krieg verletzt wurde.
Mehrere Tage und Nächte lang lag ich in meinem Krankenhausbett,
unfähig zu essen, zu trinken oder zu schlafen – ich dachte nur nach.
Das Ergebnis war, meine Unfähigkeit irgendeinem lebendigen Wesen,
einschließlich Menschen das Leben zu nehmen.
Also bin ich natürlich ein Todesfeind
der Todesstrafe. Mit ganzem Herzen begrüßte ich ihre Abschaffung von
der Knesset (bevor ich selbst ein Mitglied dieser nicht sehr
erhabenen Körperschaft wurde).
Aber vor ein paar Tagen erinnerte
jemand daran, dass die Todesstrafe nicht wirklich ganz abgeschafft
wurde. Ein obskurer Paragraph im Militär-Kode ist in Kraft
geblieben. Jetzt gibt es einen Aufschrei für seine Anwendung.
Der Anlass ist der Mord an drei
Mitgliedern einer jüdischen Familie in einer Siedlung. Der arabische
Angreifer wurde verletzt, aber nicht an Ort und Stelle getötet, wie
das sonst geschieht.
Die ganze Qlique des rechten Flügels,
die Israel jetzt regiert, brach in einen Chor von Forderungen nach
der Todesstrafe aus. Benjamin Netanjahu schloss sich dem Chor an wie
die meisten Mitglieder des Kabinetts.
Netanjahus Haltung ist verständlich.
Er hat keine Prinzipien. Er schließt sich der Mehrheit seiner Basis
an. Im Augenblick ist er tief in eine riesige Korruptionsaffäre
verstrickt, die sich um die in Deutschland gebauten Unterseeboote
dreht. Sein politisches Schicksal hängt an einem Faden. Keine Zeit
für moralische Haarspalterei.
LEGEN WIR
einen Augenblick meine persönliche geistige Unfähigkeit in Bezug auf
die Todesstrafe beiseite, beurteilt man das Problem auf einer
rationalen Basis, so zeigt dies, dass es ein riesiger Fehler ist.
Die Hinrichtung einer Person, die von
ihrem eigenen Volk für einen Patriot gehalten wird, wird großen Zorn
und einen tiefen Wunsch nach Rache auslösen. Für jede Person, die zu
Tode gebracht wird, erheben sich ein Dutzend andere und übernehmen
ihren Platz.
Ich spreche aus Erfahrung. Wie ich
schon erwähnt habe, schloss ich mich mit knapp 15 Jahren dem Irgun
an. Ein paar Wochen vorher hatten die Briten einen jungen Juden
aufgehängt, Shlomo Ben-Yossef, der auf einen Bus voller Frauen und
Kinder geschossen hatte, ohne jemanden zu treffen. Er war der erste
Jude in Palästina, der exekutiert wurde.
Später, nachdem ich schon dem
„Terrorismus“ abgeschworen hatte, wurde ich noch einmal emotional
involviert, als die Briten noch jüdische „Terroristen“ hängten.
(Ich bin stolz darüber, die einzige wissenschaftlich richtige
Definition über „Terrorismus“ erfunden zu haben: Ein
Freiheitskämpfer ist auf meiner Seite, ein Terrorist auf der andern
Seite.)
EIN ANDERES
Argument gegen die Todesstrafe ist das eine, das ich anfangs in
diesem Artikel beschrieb: die inhärente dramatische Wirkung dieser
Strafe.
Von dem Augenblick an, in dem eine
Todesstrafe gefällt wird, ist die ganze Welt, nicht nur das ganze
Land darin verwickelt. Von Tel Aviv bis Tokio, von Paris bis
Pretoria, erregt es Millionen von Menschen, die kein Interesse an
dem israelisch-palästinensischen Konflikt haben. Das Schicksal des
verurteilten Mannes beginnt, ihr Leben zu bestimmen.
Die israelischen Botschaften werden
von Botschaften guter Leute überhäuft. Menschenrechtsorganisationen
von überall werden involviert sein. Straßen-Demonstrationen werden
in vielen Städten stattfinden und von Woche zu Woche wachsen.
Die israelische Besatzung des
palästinensischen Volkes – bis dahin ein kleines Nachrichtenthema in
Zeitungen und in TV-Nachrichten wird der Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit sein. Verleger werden Sonder-Korrespondenten
schicken, Experten werden es abwägen. Einige Staatshäupter werden
versucht sein, sich dem Präsidenten von Israel zu nähern und um
Nachsicht bitten.
Da das Datum der Exekution sich
nähert, wird der Druck stärker. In Universitäten und in Kirchen wird
der Aufruf zum Boykott Israels schriller. Die israelischen
Diplomaten werden dringend das Außenministerium in Jerusalem
alarmieren. Botschaften werden anti-Terror-Vorsichtsmaßnahmen
stärken.
Die israelische Regierung wird in
dringenden Notsitzungen zusammenkommen. Einige Minister werden den
Rat geben, die Strafe umzuwandeln. Andere werden behaupten, dass
dies Schwäche zeigen und zum Terror ermutigen würde. Netanjahu wird
- wie gewöhnlich- unfähig sein, zu entscheiden.
ICH WEIß,
dass diese Art des Arguments zu einer falschen Schlussfolgerung
führen kann: arabische Angreifer an Ort und Stelle zu töten.
Tatsächlich ist dies eine zweite
Diskussion, die Israel im Moment auseinander reißt: der Fall von Elor
Asaria, ein Soldat und Feldsanitäter, der aus der Nähe einen
verletzten arabischen Angreifer, der schwer blutend auf dem Boden
lag, erschoss.
Ein Militärgericht verurteilte Asaria
zu anderthalb Jahren Gefängnis und bestätigte die Strafe in der
Berufung . Viele wünschen, dass er entlassen wird. Andere,
einschließlich wieder Netanjahu, wollen, dass seine Strafe
umgewandelt wird.
Asaria und seine ganze Familie
erfreuen sich sehr, im Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit zu
stehen. Sie sind davon überzeugt, dass er das Richtige getan hätte,
entsprechend einem ungeschriebenen Diktum, dass es keinem arabischen
„Terroristen“ erlaubt werden sollte, am Leben zu bleiben.
Tatsächlich wurde dies vor Jahren
offen vom damaligen Ministerpräsidenten Yitzhak Shamir gefordert,
(der selbst als Führer der Lehi-Untergrundgruppe einer der
erfolgreichsten „Terroristen“ des 20.Jahrhunderts war. Dafür musste
er nicht sehr intelligent sein.)
EGAL AUS
welcher Ecke man dies anschaut, die Todesstrafe ist eine barbarische
und stupide Maßnahme. Sie ist von allen zivilisierten Ländern
abgeschafft worden, außer in einigen US-Staaten (die man kaum
zivilisiert nennen kann).
Immer, wenn ich über dieses Thema
nachdenke, erinnere ich mich an die unsterblichen Zeilen von Oscar
Wilde in seiner „Ballad of Reading Gaol“( „Ballade vom Reading
Gefängnis“). Wilde beobachte einen verurteilter Mörder, der auf
seine Hinrichtung wartete, und schrieb:
„Niemals sah ich einen Mann, der mit
solch sehnsüchtigem Auge auf das kleine blaue Zelt schaute, das
Gefangene den Himmel nennen…“
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
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