Brief an meine Freunde
- Sumaya Farhat-Naser
3. September 2020
Liebe Freunde, Herzlichen Dank für die
Unterstützung und Begleitung, die wir stets erhalten. Euer
Beistand und die Vermittlung von Ideen und Gedanken sowie
Zeichen des Mitgefühls, und die finanzielle Unterstützung,
ermöglichen Friedenserziehung, Fortbildung, Motivierung und
Coaching von Frauen und Jugendlichen in Palästina. Gerade in
dieser schweren Zeit der Pandemie und der katastrophalen
politischen Situation, brauchen wir Stütze und Impulse, die
Perspektive zeigen. Wir dürfen nicht schwach werden oder uns
beirren lassen. Daher haben wir keine andere Wahl als uns noch
mehr anzustrengen und zu arbeiten, damit die Hoffnung erhalten
bleibt.
Freunde baten darum, über die Situation zu berichten und hier
schreibe ich:
Die Probleme um uns
werden mehr und das ist eine Herausforderung, die uns
verpflichtet uns noch mehr anzustrengen und aktiv zu bleiben.
Die Schulen sind geöffnet worden nach sieben Monaten
Schliessung. Es ist schwer die Kinder wieder in Griff zu
bekommen, aber sie freuen sich, sich wieder zu treffen. Vieles
muss über Internet vermittelt werden und E-Learning wird
zunehmend gefordert. Doch sehr viele Häuser haben weder Computer
noch Internetanschluss. Lehrerinnen und Lehrer werden in die
neuen Lehrmethoden eingeführt. Aber sehr viele Mütter brauchen
dringend Computer-Kurse und Zugang zu Computern und Internet.
Das Geld hierfür fehlt. Viele haben ihre Arbeit verloren.
Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes bekommen seit
fünf Monaten nur einen Drittel des Gehaltes, manche
Krankenhäuser und privat Betriebe auch. Die palästinensischen
Behörden haben kaum Geld. Die den Palästinensischen Behörden
zustehen gesammelten Zoll und Steuergelder seitens Israels
werden seit Monaten um ein Drittel gekürzt. Die Summe, die zur
Versorgung der Familien von Gefangenen und Getöteten
Palästinensern bestimmt sind, wird einfach nicht ausgehändigt.
Als Besatzungsmacht nimmt sich Israel das Recht über alles zu
bestimmen . Israel bestraft die Familien, weil ihre Kinder und
Männer, aufgrund des Widerstandes, gefangen genommen oder
getötet werden. Aber wovon sollen sie leben? Solche Massnahmen
schaffen neuen Widerstand und noch mehr Jugendliche werden gegen
Israel kämpfen wollen, um zu überleben. Es ist ein
Teufelskreis. Die Spenden vom Ausland sind weniger geworden
auch an NGO’s, Schulen und Institutionen. Die Pandemie
verbreitet sich stark und bringt Not und Armut mit sich. Es
fehlen die nötigen medizinischen Versorgungsmassnahmen. Ein
grosses Problem ist die Nicht Einhaltung der
Gesundheitssicherheitsmassnahmen seitens vieler Menschen. Trotz
Strafen und Aufklärung wollen viele nicht sich einfügen.
Politisch feiern manche
Golfstaaten und Israel «Normalisierung» und nennen es
Friedenabkommen. Normalisierung ist etwas Schönes unter normalen
Staaten und Frieden schaffen ist wunderbar zwischen verfeindeten
Ländern. Das schönste wäre, wenn Israel mit Palästina
Normalisierung macht und den Frieden zwischen Israel und
Palästina gefeiert würde. Doch die gemachte Politik von Israel
und USA gegen über den Palästinenser beruht auf Ausblendung und
Verachtung der legitimierten existentiellen Bedürfnisse der
Menschen. Mit Gewalt wird Politik bestimmt und erzwungen.
Die Vereinigten
Arabischen Emiraten, Bahren, Sudan oder Oman hat niemals Krieg
mit Israel gehabt oder Soldaten zum Kampf geschickt. Seit mehr
als zwanzig Jahren existieren wirtschaftliche, militärische,
strategische und Sicherheitsbeziehungen zwischen Israel und den
Golfstaaten, allerdings unter dem Tisch. Heute werden sie
bekannt gegeben, weil das wichtig für die Wahlen in USA ist und
um die Politik Israels zu verschönern glaubt. Es ist ein
Versuch, um die Augen zu verschliessen vor den
existenzbedrohlichen Massnahmen, die Israel in den Besetzten
Gebieten macht. Es wird gefeiert und den Eindruck verbreitet,
Frieden sei eingetreten und in Palästina geht die Besiedlung und
Annexion verstärkt weiter. Landwegnahme, Häuserzerstörung,
Gefangennahme von Menschen und Erweiterung von Siedlungen wird
wie nie zuvor verstärkt durchgeführt. Im Jordantal, das
offiziell annektiert werden sollte, sind alle 15 Unterirdische
Wasserbrunnen, die die gesamte Landwirtschaft für Palästinenser
bewässern, verschüttet worden und die Lizenz für deren Nutzung
aufgehoben worden. So kann die Landwirtschaft nicht mehr
betrieben werden. Die Bauern werden gezwungen das Land zu
verlassen, damit Besiedelung fortschreitet und Annexion leichter
möglich wird. Die Palästinenser hatten Hoffnungen, Gegenseitige
diplomatische Beziehungen und Normalisierung der Beziehungen
zwischen allen arabischen Staaten und Israel würden auch
Palästina einschliessen. Daher sind Enttäuschungen, Verbitterung
und Gefühle des Verrats bei Palästinenser aufgeweckt worden.
Der «Jahrhundert - Deal»
von Trump verkündet als die Lösung, die erzwungen werden soll,
um den Nahost Konflikt zu beenden, war von Netanyahu und
drei jüdisch-amerikanische Politiker ( Koshner, Greenblatt und
Friedmann) entworfen und zur Bestätigung dem Präsidenten zum
Verkünden vorgelegt. Die Palästinenser sind total umgangen
worden und mit Überheblichkeit und Verachtung begegnet worden,
und diese Haltung dauert an. Die Annexion von mehr als ein
Drittel der Westbank ist keineswegs widerrufen, sondern nur
verschoben, denn sie ist im Jahrhundert Deal beinhaltet.
Tatsache ist, dass die Annektierung am Boden fortschreitet.
Die offizielle Verkündung der Annektierung soll Souveränität auf
das Gebiet legitimieren und im grossen Masse Privatland
konfiszieren ermöglichen. Das annektierte Land würde dann von
Verhandlungen ausgeschlossen sein.
Aus Protest und aus der
totalen Aussichtslosigkeit heraus, haben die Palästinensischen
Behörden die Sicherheits-Koordination und im Bereich ziviler
Angelegenheit mit Israel gestoppt. Mit gedemütigten und
zerknickten Menschen kann nie Vertrauen und wahrer Frieden
wachsen. Die Wirkung ist noch mehr leiden. Es zeigt aber auch,
was es heisst unfrei und völlig von der Militärbesatzung
abhängig zu sein. Jegliche Perspektive für ein normales Leben
wird behindert. Weder Planung noch Durchführung von
Wirtschafts-, Bildung- und Zukunftsplanung können ohne
Bewilligung Israels nicht stattfinden. Das ist ein Druckmittel
um die Interessen Israels allein zu sichern. Mehr als hundert
Tausend Arbeiter sind auf Lohnarbeit in Israel angewiesen.
Unter schweren und ungerechten Bedingungen arbeiten sie, weil
sie überleben wollen. Mittelmänner aus Israel und Palästina
besorgen die Arbeitsgenehmigung. Diese Genehmigungen werden
vergeben mit der Bedingung, dass jeder Arbeiter ein Viertel
seines Tageslohnes an die Vermittler abgibt. Es gibt keinerlei
Schutz. Besatzung macht beide Seiten korrupt.
Wer Macht hat diktiert
das Geschehen. Die Interessen der USA und Europe sind an den
Interessen Israels geknüpft. Sie tun, was Israel verlangt,
unbeachtet internationaler- und Menschenrechtskonventionen.
Sie schweigen und lassen zu, dass die in Friedensverhandlungen
erreichte Einverständnisse nicht mehr gelten.
Die Golfstaaten werden
von feudalen, diktatorischen Regimen beherrscht. Die Emire und
Könige bangen um ihre Reiche. Israel und USA haben es geschafft,
die Golfstaaten zu überzeugen, dass Iran sie bedroht und dass
Israel allein ihnen Sicherheit gewährleisten kann. Die
Golfstaaten haben viele amerikanische und europäische
Militärstützpunkte und sie sind voll mit hochmodernen
Waffensystemen, die sie kaufen müssen, doch sie nur von den
Fremdschutzmächte gebraucht werden. Der Krieg in Jemen wird von
Saudi-Arabien, Bahren und Emirate geführt gegen einen Teil der
Jemeniten, die mit Iran verbündet sind. Es geht hier um
Beherrschung der Region. Vor zwei Jahren hat die Emirate mit
Unterstützung von Saudi-Arabien die jemenitische Insel Sokatra
am
Ostausgang des Golfs von Eden
besetzt. Die Emirate und Israel wollen auf dieser Insel
Militärstützstation aufbauen für militärische und Spionage
Aktivitäten. Es entsteht eine Allianz von Israel und den
Golfstaaten gegen Iran und Oppositionelle der jeweiligen Regime.
Diese Allianz wird von den Nachbarstaaten als
eine Bedrohung verstanden.
Wann machen wir eine
Allianz für Frieden? Das würde viel weniger kosten und würde
viel Leid und Not ausräumen.
Die Politik heute, von
den Mächtigen geführt, basiert auf Beherrschung von Ressourcen
wie Erdöl und Gas Vorkommnissen. Konflikte und Kriege werden
innerhalb der Länder und Regionen initiert und gefördert, damit
das Waffengeschäft noch mehr wuchert. Das Leben der Menschen
zählt in dieser Zeit viel weniger in den Köpfen der Macht- und
Geldgierigen, Waffenproduzenten und Waffen-Verkäufer. Und genau
diese eifern sich dann, um Friedensverhandlungen unter der
verfeindeten Seiten zu verwalten.
Meine Arbeit mit Frauen und Jugendlichen geht
hauptsächlich via Internet und Telefon, manchmal persönliche
Begegnung unter strenger Vorsicht und Befolgung der Gesundheits-
Sicherheitsmassnahmen. Die Arbeit konzentriert sich auf Beratung
und Besprechung von Themen, die zu ihrer Selbststärkung und
Motivation, wie auch Ermutigung zur Hoffnung und Kreativität
schaffen. Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen
Handfertigkeiten zu vermitteln, wie sie mit der schwierigen Zeit
auskommen, Bildung und Qualifizierung als Hauptziel behalten,
sich schützen, und bestens anpassen.
Wegen der Pandemie konnte meine Lese- und
Vortragsreise in Mai 2020 nicht stattfinden, und die geplant
Reise für November 2020 scheint auch schwer zu machen. Um den
20. Oktober entscheide ich mich, ob die Termine in der zweiten
Hälfte November möglich sein wird oder nicht. Die Begegnungen
sind immer wichtig für Berichten und Aufklären und sie
ermöglichen Unterstützung für die Arbeit, die weiter gehen muss.
Denn Kontinuität schafft Hoffnung, und
Hoffnung kommt durch die kleinen gesammelten Erfolge, die
jede und jeder durch Bildung und Arbeiten an sich selbst
erfährt. Wirkung von Erfolg und Freude sowie Erfahrung der
positiven Stärke ermöglichen gutes Wohlbefinden und bewahren
Sinn und Glauben an Werte der Menschlichkeit.
Wir wollen glauben, hoffen und vertrauen.
Liebe Grüsse und alles Gute Sumaya
Farhat-Naser |
*Israel macht Friedensabkommen mit der einen Hand und verstärkt
die Gewalt mit der anderen ..*
Pal.-Update Nr. 408 - 29.9.20
Kommentar - Ranjan
Solomon - Heute vor 20 Jahren: Die zweite palästinensische
Intifada begann als Antwort auf eine Provokation von Israels
Ariel Sharon nach dem Zusammenbruch der von USA unterstützten
Friedensgespräche. Die brutale israelische Antwort war der
Anstoß zum Krieg mit der palästinensischen Gesellschaft, der bis
heute nicht zu Ende ist.*
Die Zweite Intifada war gewalttätig und endete mit einer großen
Zahl von Toten auf beiden Seiten. Eine Erhebung in dieser
Intensität sollte wohl zu einer Lösung geführt haben. Nicht so
bis zum heutigen Tag. Im Gegenteil: Israel hat einen Würgegriff
über die Macht gewonnen und seine unterdrückerischen Maßnahmen
verstärkt. Frieden ist das allerletzte in den Köpfen des
Regimes in Tel Aviv. Im Gegenteil: man hat die Okkupation
verschärft und noch mehr Land gestohlen.
Wenn noch mehr Länder Frieden mit Israel suchen, wird Israel
noch eitler werden wegen seines Platzes in der Region. Sie haben
bereits mehr Gewalt und Missachtung für Frieden und Versöhnung
gezeigt. In der Tat, im gleichen Moment, als die Tinte unter den
Friedens- verhandlungen gerade abtrocknete, gab es Morde und
Zerstörungen in Gaza. Jeder Deal soll als Sieg gesehen werden
und weiterhin das politische Establishment in Palästina und das
Volk unterwerfen.
Der Artikel, den wir teilen wollen, gibt ausführlichen
Lesestoff, aber er ist es wert, die Einblicke aufzunehmen,
die dem Verständnis entgegenkommen. In Solidarität Ranjan
Solomon
*Zwei Jahrzehnte nach der Zweiten Intifada hat Palästina immer
noch keinen Partner für den Frieden*
Bashir Abu-Manneh
Zwei Jahrzehnte sind vergangen seit dem Beginn der Zweiten
Intifada, als die Palästinenser sich revoltierend gegen die
israelische Okkupation erhoben. Was ist das Bezeichnende für
diesen Jahrestag, und was erzählt er uns über den
israelisch-palästinensischen Konflikt und Israels koloniales
Projekt? Israel und seine Alliierten in USA haben den Mythos
verbreitet, dass Israel keinen „Partner für den Frieden“ hat.
Aber der bedeutendste Schluss, den wir aus den letzten
zwanzig Jahren ziehen müssen, die eine exponentielle
Vergrößerung der Anwendung von Gewalt gegenüber den unter
Okkupation lebenden Palästinensern, ist, dass es die
Palästinenser sind, die tatsächlich in Israel keinen Partner für
den Frieden haben. Israels Okkupation hat sich in einen Krieg
gegen die palästinensische Gesellschaft umgewandelt.
*Abgetrennt und ungleich* - Der Zweck der
Oslo-Friedensabkommen 1993 zwischen Israel und der Palestine
Liberation Organisation (PLO) war, Israels Trennung von den
besetzten und kolonisierten Palästinensern zu bewirken. Yizhak
Rabin, dem Haupt-Architekten des Oslo-Abkommens war das klar. Er
richtete seine Wahlkampagne 1992 vor Oslo auf das Versprechen
aus, Gaza von Tel Aviv zu trennen. Das erforderte nicht nur eine
politische Trennung, sondern ebenso einen wirtschaftlichen
Ausschluss. Es würde ein Ende für Israels Ausbeutung von
migrierender palästinensischer Arbeitskraft (Gastarbeiterschaft)
bedeuten, die sehr von ihrer Stellung in der israelischen
Wirtschaft während der Ersten Intifada profitiert hatte, um der
israelischen Okkupation wirksam und gewaltlos zu widerstehen.
Für Israels Staats-Manager bedeutete die Trennung, sich frei zu
machen von den Palästinensern, und sie auf permanenter Basis von
Israel auszuschließen – nicht nur während vorübergehender
Absperrungen und Ausgehverboten. So würde den Palästinensern
jede Mitsprache genommen werden. Wie die israelische
Journalistin Amira Hass nicht müde wird festzustellen, hat die
Abschottung tatsächlich in Gaza 1991 begonnen: „Die Belagerung
begann 1991 – vor den Selbstmord-Bombardements“. Aber diese
Trennung bedeutete nicht ein Ende der Herrschaft Israels über
die Palästinenser oder seiner Okkupation. Das Umgekehrte war die
Wahrheit.“
Palästinenser aus Tel Aviv auszusperren bedeutet eine
Intensivierung der Herrschaft mit mehr Siedlungen, mehr
Parzellierung und Enteignung von palästinensischem Land und mehr
Kontrolle über lebenswichtige Aspekte im Leben der
Palästinenser: Reisen, Sicherheit und Wirtschaftsleben. Während
Israel sich befreit hat von der Verantwortung für die
Arbeitsmöglichkeiten für die Palästinenser , werden die
Palästinenser von Israel noch mehr kontrolliert und abhängig
gemacht.
Das physisch sichtbare Zeichen für dieses neue
Okkupations-Regime war die 700 km lange Trennungsmauer, illegal
gebaut auf besetztem Land, um die illegalen Siedler und
Siedlungen zu schützen, und in Verbindung mit endlosen
Checkpoints und Straßenblockaden, die die Palästinenser von
Israel und voneinander trennen. Das politische Zeichen war eine
neue palästinensische Lokalregierung, die „Palestinian Authority“
(PA), deren wichtigste Funktion darin bestand, den israelischen
Sicherheitsbedürfnissen zu dienen. Diese Abtrennung und
Herrschaft wurde für die Palästinenser eine totale Katastrophe,
die für die normalen Israelis unsichtbar wurde. Beherrscht
werden und nicht ausgebeutet heißt, dass die besetzten
Palästinenser eine überflüssige Bevölkerung wurden – eine Bürde
ohne Einflussmöglichkeit auf ihre Dominatoren, die für nichts
gebraucht wurden.
*Eine Kugel für jedes Kind* - Es ist diese einzige Tatsache,
die erklärt, warum Israel jetzt Palästinenser in großer Zahl
töten
konnte. Die Ausschließung gab der Armee Israels freie Hand, um
mit der jetzt verzichtbaren Bevölkerung umzugehen – besonders,
wenn sie gegen ihre Bedingungen der Masseninhaftierung
protestierten. Die neue Welle der Tötungen begann mit Israels
extrem gewalttätiger Antwort auf den Ausbruch der Zweiten
Intifada. Ariel Sharon’s großzügig veröffentlichter und
provokativer Besuch in Haram al-Sharif im September 2000 in
Begleitung von tausenden Soldaten und Überfallskommandos löste
gewaltlose Demonstrationen aus. Israel antwortete mit der
Entfachung eines Krieges gegen die besetzte Bevölkerung.
In den ersten paar Tagen der Intifada feuerten die „Israel
Defence Forces“ (IDF) mehr als eine Million Kugeln in die Menge
– gemäß den Daten, die vom Leiter des israelischen
Geheim-dienstes, Amos Malka, zur Verfügung gestellt wurden. Wie
der Journalist Ben Caspit berichtete, antwortete ein Mitglied
des Zentralkommandos von IDF auf diese Zahl mit dem Vorschlag,
man sollte diesen Einsatz „eine Kugel für jedes Kind“ nennen.
Für den Soziologen Uri Ben-Eliezer für israelischen Militarismus
sagt ein Gewaltausbruch in einer solchen Massivität aus, dass es
dafür einen schon früher existierenden Armeeplan gegeben haben
muss. IDF beabsichtigte, eine gewaltsame Konfrontation mit
Protestierenden anzuzetteln und die Palästinenser aufzustacheln,
die Taktik der Gewaltlosigkeit der Massen aufzugeben, die die
ersten Wochen der Revolte bestimmt hatten: Es war die IDF, die
aus der Al-Aqsa-Intifada einen Krieg gemacht hat.“ Die Besetzten
waren jetzt ein militärisches Ziel:
Als Teil des „neuen Kriegs-Zugangs“ und mit dem Ziel,
ethno-nationale Grenzen wieder einzusetzen und „die
Palästinenser auf ihren Platz zu verweisen,“ begann IDF die
palästinensische Gesellschaft im allgemeinen anzugreifen,
einschließlich ihrer Wirtschaft, ihren Infrastrukturen, ihrem
täglichen Leben, ihrer Sicherheit, ihren Freiheiten und ihrer
Bewegungsfreiheit.
Dieser Zugang hatte Erfolg bei der Militarisierung der Intifada
und der Demobilisierung der weitverbreiteten gewaltlosen
Massenproteste. Obwohl die Unterstützung gewaltloser Taktiken
stark blieb, kam sie nur lokal und in Teilen zum Tragen, wie
Julie M. Norman gezeigt hat.
*Arafat zum Prügelknaben machen* - Jedoch, Israels
betrügerische Propaganda stellte die Intifada als Yasser
Arafat’s „Recht zum kriegerischen Rückschlag“ dar, vermutlich um
aufzufordern, das zu erreichen, was er bei den
Friedensverhandlungen von Camp David nicht erreichen konnte. In
der Tat, auch nachdem die Zweite Intifada ausgebrochen war,
meldete Israels militärischer Geheimdienst an seine politischen
Oberen, dass Arafats Vorsatz zum Frieden mit Israel strategisch
sei: nach Angabe dieser Berichte war er überzeugt, dass der
Konflikt nur friedlich gelöst werden konnte. Israel entschied
sich für Krieg, um das Potential für eine friedliche Beilegung
zu unterminieren. Entgegen der Legende, die von israelischen
Führern und deren Sponsoren in den USA fleißig herumgestreut
wurde, hat Ehud Barak in Camp David kein
großzügiges Angebot gemacht und ging von den
unerledigten
Taba-Friedensgesprächen, die folgten, weg.
Die Taba-Gespräche wurden, wie die gemeinsame
Abschluss-Stellungnahme versicherte, „beispiellos in
ihrer positiven Atmosphäre und Ausdruck gegenseitigen guten
Willens, die nationalen, Sicherheits- und existentiellen
Bedürfnisse jeder Seite zu treffen.“ Aber Barak und Sharon
hatten anderes im Sinn. Sie wollten die Zweistaatenlösung
zerstören und die Palästinenser zwingen,
Kolonialismus-als-Frieden auf permanenter Basis zu akzeptieren.
Die Zweite Intifada war nicht Arafat’s Schöpfung. Sie war die
spontane Revolte gegen die Bedingungen von Oslo von Verzicht und
permanentem Ausschluss, kolonialer Herrschaft und Ausbreitung
der Siedlungen. Auch ein Protest gegen Arafats Fehler, die
Unabhängigkeit, die er versprochen hatte, zu liefern. Nach
Arafats Tod 2004 würde eine biegsamere und politisch weniger
angepasste Person, Mahmoud Abbas, den palästinensischen
Widerstand schwächen, entwaffnen und ersticken, während er nach
Washington eilte. Als die Wieder-Okkupation der Westbankstädte
durch Israel 2002 kam, wurde sie begleitet von sehr langen
Belagerungen und Ausgangssperren, weitverbreiteter kollektiver
Bestrafung und Zerstörungen, und Plünderungen durch die Armee –
mit den Worten von Raja Shehadeh, dem in Ramallah wohnenden
Schriftsteller und Rechtsanwalt (siehe auch Palestine Update Nr.
405): „wahllose Zerstörung … in einer überlegten, vorsätzlichen,
vorkalkulierten Art und Weise“. Wie legitimieren die Sprecher
der Israelis diese staatliche Gewalt?
Eine Million Mal wiederholen sie das Wort „Terror“. Wir, die
Palästinenser, sind Terroristen, und daher ist alles, was sie
uns antun, legitim. Wir werden als „homo sacer“ behandelt,
als Menschen, auf die sich die Gesetze für den Rest der
Menschheit nicht beziehen. Der „Krieg gegen Terror“ der
Vereinigten Staaten nach 9/11 war eine perfekte Decke für
Israels „neuen Krieg“ gegen die Okkupierten, und enthielt
massive Verletzungen der Menschenrechte und systematisches
Zielen auf Zivilisten. Washington unterstützte alle Kriege
Israels und zerstörte zugleich Afghanistan und Irak und
destabilisierte den Mittleren Osten unter dem erschwindelten
Vorwand, den internationalen Terror zu bekämpfen.
*Die Palästinenser kriminalisieren* - Darin liegt das Kreuz
der neuen Strategie in der Periode seit der Zweiten Intifada.
Ihr Ziel war, die besetzten Palästinenser in der öffentlichen
Wahrnehmung als Terroristen abzustempeln, und die Kriegsgesetze
umzudrehen, um ihr Morden zu rechtfertigen. Unter-drückerische
militärische Operationen durch eine Kolonialarmee wurden
umgedacht in einen Krieg gegen eine ganze kriminalisierte
Bevölkerung. Eine neue israelische Narrative von
Selbstverteidigung gegen international finanzierten islamischen
Terrorismus und Hass überstiegen die palästinensische Narrative
vom rechtmäßigem Widerstand gegen einen illegalen Besatzer, der
das Recht eines unterdrückten Volkes auf Selbstbestimmung
verletzte.
Palästinenser wurden zu „tickenden
Bomben“ und potentiellen Selbstmord-Bombern – und den Israelis
wurde beigebracht, dass sie sich erheben mussten und töten, um
sich selbst zu schützen. So folgten sie den Befehlen ihrer
Armee. Am 22. Juli 2020 zum Beispiel warf ein israelischer
F-16-Pilot eine 1-Tonne-Bombe auf eine Nachbarschaft in Gaza
City; er tötete damit einen Hamasführer, seinen Leibwächter und
15 Zivilisten im Schlaf. Solche illegale (Meuchel-)Morde und
ungesetzliche Tötungen wurden als Teil von Israels neuem
militärischen modus operandi in den besetzten Gebieten
normalisiert. Weitere Hunderte 1-Tonne-Bomben würden folgen, um
auf zivile Nachbarschaften abgeworfen zu werden.
Kriegsverbrechen wurden zu einem integralen Teil der kolonialen
Okkupation.
*Die Zerstörung von Gaza* - Israels schwerwiegende
Missachtung für menschliches Leben war voll im Gange, besonders
in den Angriffen auf Gaza 2008/9 und 2014. Nachdem sie ihre
eigene Bevölkerung in den Geist der Verehrung für die Armee
eingeschworen und diese „neuen Kriege“ als militärische
Kampagnen gegen den Terror verpackt hatte, konnte die
israelische politische Klasse auf die öffentliche Meinung
zählen, solche großräumigen Invasionen von Gaza zu unterstützen
(eine furchterregende und überwältigende Zahl von 95 % taten
das!).
Der erste Krieg dauerte 22 Tage – tötete 1.200 Zivilisten
(darunter 350 Kinder) und zerstörte mehr als 6000 Wohnungen. Der
zweite dauerte 51 Tage – tötete 1.462 Zivilisten (550 Kinder)
und zerstörte mehr als 18.000 Wohnungen. Obwohl bewaffnete
palästinensische Gruppen tausende zu Hause angefertigte
Qassam-Raketen auf Israel abfeuerten, waren es die
Schlacht-tätigkeiten in Gaza, bei denen die meisten der 87
Israelis im Laufe dieser Kriege auf Gaza starben. (Dazu gehören
auch noch zusätzlich 174 tote Palästinenser während einer
einwöchigen Militär-Kampagne 2012). Nirgendwo war man sicher in
einem terrorisierten Gaza, das aus der Luft, vom Land und vom
Meer her bombardiert wurde. Hunderttausende Gazaer wurden aus
ihren Wohnungen gezwungen, ganze Nachbarschaften und Familien
wurden hinausgepeitscht. Bei einem Überblick über das
unvorhersehbare Ausmaß von Bombardierungen und Zerstörungen
schloss der Historiker
Rashid
Khalidi seine Zusammenassung dieses „einseitigen
Krieges“ auf Gaza mit folgenden Worten: „Eine der mächtigsten
Armeen auf diesem Planeten wandte ihre volle Kraft gegen ein
belagertes Areal von 140 Quadratmeilen (ca. 373
Quadratkilometer), das zu den dichtest besiedelten Enklaven der
Welt gehört, und dessen Bevölkerung keine Chance hatte, um dem
Regen an Feuer und Stahl zu entkommen. Israel perfektionierte
die Kunst des Krieges als kollektive Bestrafung“.
*Der Mythos der Selbstverteidigung* - Kein Gerede von
Selbstverteidigung kann Israels unverhältnismäßige und wahllose
Anwendung von Gewalt in Gaza verdecken, mit der voll wirksam die
im Libanon 2006 angewandte Dahiya Doctrine (militärische
Strategie zur asymmetrischen Kriegsführung) benutzt wurde. In
einer tiefschürfenden konsequenten Rechtsanalyse des Krieges mit
Gaza 2008/9 argumentierte die palästinensische
Menschenrechts-Organisation Al-Haq (Palestine Update Nr. 405),
dass Israel das Recht auf Selbstverteidigung, wie es im Artikel
51 der UN-Charta als Rechtfertigung für Krieg beschrieben ist,
nicht anrufen kann. Jedweder Versuch, dies zu tun, widerspricht
Israels Verpflichtungen als Besatzung von Gaza (un-„wirksame
Kontrolle“) und dem rechtlichen Prinzip von militärischer
Notwendigkeit „als die exklusive legale Rechtfertigung für
irgendeine Operation“, wie Al-Haq abschloss:
Trotz der weitverbreiteten Zustimmung zu Israels Vorwand
schließt der Rechtsstatus des OPT (Occupied Palestinian
Territories) die Anwendung von Art. 51 der UN-Charta als ein
Ergebnis für verlängerte Okkupation aus. Die Gaza-Kriege wären
nicht möglich gewesen ohne Israels einseitigem Abkuppeln von
Gaza – ohne, d.h. einer Abtrennungspolitik mit zugleich der
Herrschaft über den winzigen Streifen. Da das Gebiet keine
strategische oder religiöse Bedeutung hat, ermöglichte die
Evakuierung seiner Siedlungen den totalen Ausschluss, die
Absperrung und letztendlich einen Zustand der permanenten
Belagerung und des Krieges. Es passt zusammen mit der Politik
der intensivierten Kolonisation in der Westbank, gestattete
Israel, die beiden Gebiete voneinander zu trennen und fachte die
palästinensische Parteienbildung und innere politische
Konkurrenz an.
Hier hatte Israel Erfolg in hohem Ausmaß, weil die nachgiebige
Palestinian Authority (PA) von Abbas seinen Wünschen entgegen
kam, die Hamas gewaltsam zu schwächen, besonders nach dem Sieg
der Hamas in den Wahlen von 2006 und der voraus zu sehenden
Übernahme von Gaza 2007. Die palästinensische nationale
Versöhnung und eine Gemeinschaftsregierung waren unmöglich
gemacht worden durch die unterwürfige Anhänglichkeit der PA an
das dem Tode geweihte Rahmenwerk von Oslo und dem Boykott von
Israel und USA für eine demokratisch gewählte Hamas-Regierung
wie auch durch die auf Trennung abzielende Logik der
palästinensischen Parteienlandschaft.
*Kriege zur Tötung der Politik* - Die Kriege seit der
Zweiten Intifada sollten als Kriege zur Tötung der Politik
definiert werden, in dem Sinn, wie sie vom Politiksoziologen
Baruch Kimmerlang beschrieben werden: Der Terminus Tötung der
Politik (Anm: schöner „Politicide“, wenn mir diese Wortschöpfung
erlaubt ist) meint einen Prozess, um einen ethno-nationalen
Stamm zu hindern, eine dauernde Selbstbestimmung zu erreichen
durch die Leugnung seiner Legitimation und die systematische
Vernichtung seiner Führung und seiner materiellen,
wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Infrastrukturen.
Um die koloniale Ausdehnung zu fördern, schufen sie auch eine
formbare, unterwürfige und erpressbare palästinensische Führung
in der Westbank und ein isoliertes, belagertes Hamas-Regime in
Gaza. Durch seine illegalen Aggressionskriege hat Israel alle
realen Aussichten auf Frieden verwüstet. An jedem
Kreuzungspunkt, wenn es eine Chance gab, um Konflikt und
Antagonismus mit friedlichen Mitteln zu lösen, entweder mit der
PLO oder mit Hamas, optierte Israel für Krieg.
Es gibt eine lange Liste von Berichten über aktive Zerstörung
von Waffenstillstand mit Hamas (im Austausch gegen das Auflösen
oder Erleichtern der Belagerung von Gaza) und -sogar schlimmer –
die Zurückweisung von zahllosen langfristigen „hudna“
(Burgfrieden) Angeboten von der Führung der Hamas - ein
Schlüsselakt ihres pragmatischen politischen Programms, das sie
dazu geführt hat, an den legislativen Wahlen von 2006
teilzunehmen und de facto eine Zweistaaten-Lösung zu
akzeptieren. „Ich mag keine Kriege mehr“, war vor kurzem erst
eine direkte Botschaft an das israelische Publikum von
Hamas-Führer Yahya Sinwar. Wenn Israel Frieden wollte, würde es
zuhören. Israel wies auch die Option zurück, seine Okkupation
der Westbank und des Gazastreifens im Austausch für Frieden und
Normalisierung mit 22 arabischen Ländern, genannt die Arabische
Friedens-Initiative von 2002, aufzugeben. Der Historiker
Tom Segev
brachte es gut auf den Punkt nach dem Angriff auf Gaza 2008/9:
Die Rechtfertigung für alle Kriege und Vergeltungs-Aufstände,
die Bestrafungen und Racheakte, die Israel seit dem Tag
ausgeführt hat, an dem es eingerichtet wurde, kommt aus dem
Anspruch, dass es keine Wahl gab. Aber von Zeit zu Zeit und
sickerte später durch, dass Wahlmöglichkeiten sehr wohl
existierten.
*Wirklicher Frieden ist für Israel keine Priorität; ebenso wenig
eine Beendigung des Konflikts mit den Palästinensern. Israel
muss gezwungen werden, Frieden zur Priorität zu machen. Daher
ist es notwendig, seinem Appetit auf Krieg den Grund zu nehmen.
Mehr und mehr progressive Amerikaner bekennen sich zu dieser
Stellungnahme. Auch das ist ein Ergebnis des Krieges.*
Bashir Abu Manneh liest über post-koloniale Literatur; er ist
der Direktor des „Centre for Postcolonial Studies“ und Autor von
„The Palestinian Novel“: 1948 bis zur Gegenwart (2016) und
Fiktion des ‚Neuen Staatsmannes‘ 1913 -1939 (2011)
(Übersetzt: Gerhilde Merz)
Quelle
Quelle Update
|
Die
Lancet zensiert Gaza-Gesundheitsbrief nach pro-israelischem
Druck
Omar Karmi - 1. Oktober 2020 - Übersetzt
mit DeepL
Mit einem erneuten
Anstieg der Zahl der Coronavirusinfektionen steht Gaza erneut
vor der sehr realen Aussicht, dass sein Gesundheitssystem
überfordert sein wird. Gaza kämpft nicht nur gegen eine globale
Pandemie. Unter einer israelischen Blockade und aufeinander
folgenden militärischen Angriffen seit 2007 kämpft der
Küstenstreifen gegen eine der höchsten Armuts- und
Arbeitslosenraten der Welt und gegen eine bröckelnde
Infrastruktur, auch im Gesundheitssektor. Ein schwerwiegender
Mangel an Medikamenten und medizinischer Ausrüstung, der in
direktem Zusammenhang mit der israelischen Belagerung steht,
könnte in Verbindung mit den verheerenden Auswirkungen einer
Pandemie das Gesundheitswesen mit einem vollständigen
Zusammenbruch bedrohen.
Zumindest eines dieser Probleme kann ziemlich schnell behoben
werden, sollte Israel seine Blockade lockern oder beenden. Aber
darauf hinzuweisen ist nicht so einfach, wie es scheinen mag,
wie vier medizinische und Menschenrechtsexperten aus der ganzen
Welt zu ihrer Bestürzung festgestellt haben.
Bereits im März, als die Pandemie den Gazastreifen zum ersten
Mal heimsuchte, schrieben David Mills vom Bostoner
Kinderkrankenhaus, Bram Wispelwey vom Bostoner Brigham and
Women's Hospital, Rania Muhareb von der palästinensischen
Menschenrechtsgruppe Al-Haq und Mads Gilbert vom
nord-norwegischen Universitätskrankenhaus einen kurzen Brief an
The Lancet, eine der weltweit führenden medizinischen
Fachzeitschriften. Pandemien werden den "Bevölkerungen, die
durch Armut, militärische Besetzung, Diskriminierung und
institutionalisierte Unterdrückung belastet sind", mehr Schaden
zufügen, so die Autoren. Sie drängten die internationale
Gemeinschaft zum Handeln, um die "strukturelle Gewalt" zu
beenden, die den Palästinensern in Gaza zugefügt wird. "Eine
COVID-19-Pandemie, die das Gesundheitssystem des Gazastreifens
weiter lähmt, sollte nicht als ein unvermeidliches
biomedizinisches Phänomen betrachtet werden, das die
Weltbevölkerung gleichermaßen erlebt, sondern als eine
vermeidbare biosoziale Ungerechtigkeit, die in Jahrzehnten
israelischer Unterdrückung und internationaler Komplizenschaft
wurzelt", schlossen sie. Der Brief - "Strukturelle Gewalt im
Zeitalter einer neuen Pandemie: der Fall des Gaza-Streifens" -
wurde ordnungsgemäß am 27. März online veröffentlicht. Nur drei
Tage später wurde der Brief jedoch, in einem für The Lancet
ungewöhnlichen, wenn nicht gar beispiellosen Schritt,
kommentarlos heruntergenommen. (Er kann immer noch auf der
Website einer Suchmaschine für akademische Veröffentlichungen
hier nachgelesen werden).
Boykott - "Als wir es bemerkten, haben wir The Lancet um
eine Erklärung gebeten", sagte Wispelwey, der auch Dozent an der
Harvard Medical School ist. Laut Wispelwey würde The Lancet nur
sagen, dass "unser Kommentar eine ernste Krise herbeigeführt
hat", aber keine Details, keine weiteren Kommentare und keine
veröffentlichten Erklärungen für die Leser anbieten.
Die Autoren stellten jedoch fest, dass der Brief unter den
Anhängern Israels in der medizinischen Gemeinschaft für
Aufregung gesorgt hatte. Ein prominenter Aktivist, Daniel
Drucker, ein renommierter kanadischer Endokrinologe, ging am 29.
März zu Twitter, um The Lancet und seinen Herausgeber Richard
Horton zu verurteilen. "Während die Welt gegen COVID-19 kämpft",
schrieb er, "ergreifen The Lancet und Richard Horton die
Gelegenheit", Briefe zu veröffentlichen, in denen "Israel
kritisiert wird". In einem Blogbeitrag lobte Drucker Horton für
seine "rasche Entscheidung", den " Schuldzuweisung an
Israel"-Brief aus The Lancet zu entfernen.
Daraufhin reagierte Palestine Legal schnell und beklagte, dass
Drucker The Lancet gezwungen habe, sich selbst zu zensieren.
Drucker verglich auch den Antisemitismus mit einem Virus und
behauptete, dass "Antisemitismus, Antizionismus und
antiisraelische Schimpfwörter hochgradig verwandte Stämme
seien".
Für Drucker ist diese Art der pro-israelischen Befürwortung
nicht neu. Er war Teil einer äußerst effektiven Kampagne gegen
The Lancet im Jahr 2014, nachdem die Publikation "Ein offener
Brief für die Menschen in Gaza" erschienen war, in der gegen die
Auswirkungen des israelischen Militärangriffs in jenem Jahr
protestiert wurde. Bei dem Angriff kamen mehr als 2.200 Menschen
ums Leben, zumeist Zivilisten, darunter 550 Kinder. Bis Ende
Juli 2014, mitten in der israelischen Offensive, hatte dieser
Brief mehr als 20.000 Unterschriften erhalten, deren Namen The
Lancet nach "mehreren Droherklärungen an die Unterzeichner"
ankündigte, er werde nicht veröffentlicht.
Unter den Drohbekundungen, wie sich später herausstellte, waren
persönliche Angriffe gegen Horton, die ihn des Antisemitismus
beschuldigten und ihn in einer Nazi-Uniform darstellten. Seine
Frau wurde verbal angegriffen, und seiner Tochter wurde von
Klassenkameraden erzählt, ihr Vater sei Antisemit.
Als Antwort auf diesen Brief startete Drucker eine Petition, um
medizinische und wissenschaftliche Publikationen "frei von
trennenden politischen Meinungen" zu halten. Die Petition zog
mehr als 5.000 Unterschriften an und veranlasste pro-israelische
Mediziner auf der ganzen Welt, vor allem aber in Nordamerika,
The Lancet fünf Jahre lang zu boykottieren.
Dissens zum Schweigen bringen - Schließlich, und nachdem The
Lancet 2017 eine ganze Ausgabe dem israelischen
Gesundheitssystem gewidmet hatte, wurde der Boykott wieder
aufgehoben.
Die Befürchtung sei jedoch, so Wispelwey, dass medizinische
Fachzeitschriften nun einer indirekten Zensur oder Selbstzensur
gegenüber Palästina unterliegen, da die Kampagne gegen The
Lancet einen "allgemeinen Abkühlungseffekt" habe. Der Kommentar,
den er im März mitverfasst habe, so Wispelwey, sei nicht stärker
formuliert als anderswo in den Mainstream- oder israelischen
Medien veröffentlichte Beiträge. "Die Extreme der Reaktion
legt das Verständnis nahe, dass es sich um einen Raum -
akademische medizinische Zeitschriften - handelt, der selbst für
Mainstream-Ideen, Dokumentationen und Diskurse über den
palästinensischen Gesundheitskontext, die Kritik an Israel
enthalten, tabu ist", sagte Wispelwey.
Die elektronische Intifada berichtete im März, dass das weit
verbreitete Dashboard für COVID-19, das vom Center for Systems
Science and Engineering der Johns Hopkins University
veröffentlicht wurde, die Palästinenser durch die
Zusammenführung von Daten für Israel und das besetzte
Westjordanland und den Gaza-Streifen effektiv ausgelöscht habe.
Diese Entscheidung wurde schließlich wieder rückgängig gemacht,
aber das Schweigen der pro-palästinensischen Stimmen in der
Wissenschaft und darüber hinaus wurde von Edward Said bis Judith
Butler von allen Seiten gut dokumentiert.
Es ist ein Bemühen, das kaum Anzeichen eines Nachlassens zeigt.
- Erst letzten Monat zogen große Social-Media-Unternehmen -
Zoom, Facebook und YouTube - alle Register, um eine von der San
Francisco State University organisierte Veranstaltung mit Leila
Khaled, einer palästinensischen Ikone des Widerstands und
ehemaligen Kämpferin der Volksfront für die Befreiung
Palästinas, die jetzt in den 70er Jahren ist, zu verhindern. Und
überall auf der Welt üben pro-israelische Gruppen auf allen
Ebenen Lobbyarbeit bei Regierungen aus, um die Boykott-,
Desinvestitions- und Sanktionsbewegung, die sie als
antisemitisch verleumden, zu verbieten.
Das Argument, um die Kritik an Israels Behandlung der
Palästinenser in medizinischen und wissenschaftlichen
Publikationen zum Schweigen zu bringen, ist, dass diese frei von
"spaltenden" politischen Inhalten sein sollten. Aber das, sagte
Rania Muhareb, eine Wissenschaftlerin und Rechtsforscherin bei
Al-Haq, als der Brief vom März geschrieben wurde, sei
unaufrichtig. Fragen der öffentlichen Gesundheit sind ganz klar
politisch - die universelle Gesundheitsfürsorge ist ein
offensichtliches Beispiel dafür -, wobei soziale und politische
Ungleichheiten als Grundursachen von Gesundheitsproblemen
anerkannt werden. In Konfliktgebieten lassen sie sich unmöglich
voneinander trennen. "Die Verwirklichung des Rechts auf
Gesundheit ist eng mit der Erfüllung anderer Grundrechte
verbunden", sagte Muhareb gegenüber der elektronischen Intifada.
Leben auf dem Spiel - Im Gaza-Streifen ist die Politik ganz
sicher mit im Spiel, wenn es um die Gesundheit geht. Das
israelische Militär, das die totale Kontrolle über alle Importe
nach Gaza ausübt, einschließlich der humanitären Hilfe, hat es
dennoch versäumt, einen Notfallplan für Gaza aufzustellen, da
die verarmte Region versucht, mit COVID-19 fertig zu werden.
Israel weigert sich zu handeln, obwohl es völkerrechtlich die
Besatzungsmacht bleibt und somit rechtlich für das grundlegende
Wohlergehen aller Menschen in Gaza verantwortlich ist.
Und es hat nicht an
einer mangelnden Warnung gefehlt. Palästinensische, israelische
und internationale Menschenrechtsgruppen haben wiederholt an
Israel appelliert, einen Plan zu formulieren oder, noch
wirksamer, die Belagerung ganz aufzuheben, bevor es zu spät ist.
Die Zahlen erzählen eine ahnungsvolle Geschichte: Als die
Pandemie im März zum ersten Mal den Gazastreifen traf,
beschränkte sie sich auf die wenigen Reisenden, die in den
belagerten Küstenstreifen ein- und ausgingen. Sie waren leicht
zu identifizieren und unter Quarantäne zu stellen.
Der erste Todesfall im Zusammenhang mit COVID-19 ereignete sich
im Mai, etwa zwei Monate nach den ersten bestätigten Fällen, und
befand sich ebenfalls in einer Isolationseinrichtung. Doch als
Ende August die Übertragung in den Gemeinden begann, stieg die
Zahl der Todesfälle sprunghaft an. Die Zahl der bestätigten
Fälle stieg von 200 Ende August auf mehr als 2.600 bis zum 25.
September. Es gab 17 Todesfälle.
"Das
Gesundheitssystem in Gaza ist an den Rand des Zusammenbruchs
gedrängt worden", sagte Mads Gilbert, ein Chirurg, der viele
Jahre lang in Gaza gearbeitet hat. Israels Blockade und
wiederholte militärische Angriffe hätten die
Gesundheitsversorgung in Gaza tödlich untergraben und dazu
geführt, dass Krankenhäuser und Kliniken nicht in der Lage und
unvorbereitet seien, mit einer Pandemie fertig zu werden. "Die
Befürchtung ist, dass ein unkontrollierter COVID-19-Ausbruch im
Gazastreifen das Gesundheitssystem des Gazastreifens völlig
überlastet und dadurch die Anfälligkeit der Palästinenser für
die Pandemie unter den Bedingungen struktureller Gewalt noch
erhöht", sagte Gilbert gegenüber der elektronischen Intifada.
Fairer Kommentar - Fairer Kommentar für Mediziner? Nicht
laut Zion Hagay von der Israeli Medical Association, dessen
Brief als Antwort auf den inzwischen nicht mehr existierenden
Brief von Gilbert et al. in der neuesten Online-Ausgabe von The
Lancet veröffentlicht wurde. Hagay prangerte den Brief vom März
als "politische Rhetorik" an und verteidigte die Blockade
Israels als "eine notwendige Antwort auf Waffenschmuggel und
nicht endende Gewalt gegen Israel". Er lobte Israel dafür, dass
es palästinensischen Patienten "erlaubt" habe, "weiterhin nach
Israel einzureisen, um lebensrettende medizinische Behandlung zu
erhalten".
Aber die Palästinenser in Gaza sehen sich mit einem weithin
kritisierten und beschwerlichen Prozess konfrontiert, um vom
israelischen Militär die Erlaubnis zu erhalten, zu
Behandlungszwecken oder aus anderen Gründen zu reisen. Aufgrund
israelischer Verzögerungen und der Verweigerung von
Genehmigungen sterben palästinensische Patienten routinemäßig
wegen fehlender Behandlung. Allein im Jahr 2017 gab es 54
solcher Todesfälle, die von der WHO dokumentiert wurden.
Hagay versäumte es auch, darauf hinzuweisen, dass
UNO-Generalsekretär António Guterres - den er ansonsten lobend
auf die Zusammenarbeit zwischen Israel und der Palästinensischen
Autonomiebehörde als Reaktion auf COVID-19 hinweist - den
Gazastreifen seit langem als eine der "dramatischsten"
humanitären Krisen der Welt bezeichnet und die Aufhebung der
Belagerung gefordert hat.
Doch darüber hinaus, so Wispelwey, sei es "verblüffend", dass
The Lancet als Antwort auf einen Artikel, der bereits
heruntergenommen worden war, beschloss, einen Brief zu
veröffentlichen. "Das macht die ganze Situation nur noch
bizarrer", sagte Wispelwey. "Eine Antwort auf einen jetzt
'verschwundenen' Artikel zu veröffentlichen und ihm zu erlauben,
sich zu dessen Entfernung zu äußern? "Zensur und Überwachung
sind klassische Methoden der siedlerisch-kolonialen Kontrolle",
fügte Wispelwey hinzu. Anstatt ein falsches "Gleichgewicht" der
Standpunkte anzustreben, das die Machtunterschiede nicht
berücksichtigt, so Wispelwey, müssen wir "anfangen, diese Kräfte
in der akademischen Medizin und darüber hinaus anzuerkennen, zu
benennen und ihnen zu widerstehen". The Lancet wollte sich dazu
nicht äußern. Quelle |