Lieber Freund, ich kenne al-‘Esawiyah seit den 1990gern, als
ich als Journalist bei der Jerusalem-Zeitung, Kol Hair tätig
war. Da erfuhr ich zum ersten Mal von der ständigen
Missachtung. Im letzten Jahr jedoch lernte ich das Viertel
durch die Kampagne gegen Missbrauch und Kollektivstrafen der
israelischen Polizei dort näher kennen.
Fast ein Jahr zuvor, am 27. Juni 2019, hatte ich an einem
gemeinsamen Protest teilgenommen, den Aktivisten des
Viertels und israelische Partner organisiert hatten – nur
zwei Stunden später tötete ein Polizeioffizier den Einwohner
Muhammad Abeid, 21, ohne jegliche Rechtfertigung. Seit
damals habe ich an Protesten teilgenommen, die wöchentlich
von den Einwohnern organisiert wurden, wohnte Treffen bei
und beobachtete den Abriss der Häuser durch die Stadt.
Als jemand, der einige Polizeieinsätze voller Brutalität in
Ostjerusalem miterlebt hat, sah ich die Folgen der Jahre
entmenschlichender Hetze gegen die palästinensischen
Einwohner der Stadt. Die Polizeikräfte, die regelmäßig in
das Viertel einfallen – Sonderpatrouilleneinheit und
Grenzpolizeitruppen, bewaffnet bis an die Zähne - sehen eher
wie Milizen als Vertreter des Gesetzes aus. Gewalt um der
Gewalt willen dient lediglich dazu, ihren dubiosen Status
als Herrscher zu zementieren und nichts anderes.
Über 20.000 Menschen leben in al-‘Esawiyah. Sie müssen
tagtäglich mit dieser willkürlichen Gewalt seit über einem
Jahr mittlerweile zurechtkommen. Kinder und Kleinkinder
leiden unter Gaskanistern, die spät nachts in enge Gassen
geworfen werden, Teenager werden brutal geschlagen, einige
von ihnen festgenommen, und Aktivisten vor Ort werden
ständig fälschlich von der Polizei beschuldigt. Al-‘Esawiyah
ist ein ruhiges Viertel – bis die Polizei auftaucht und in
einem verdrehten Rollentausch den Frieden stört.
Die Zeit, die ich im Viertel verbracht habe und die
Forschung und Analyse für diesen Bericht haben mir auch den
Schaden vor Augen geführt, den das Planungschaos angerichtet
hat, das die israelischen Behörden diesem Viertel auferlegt
haben. 53 Jahre nach dessen Annexion an die Stadtgrenzen von
Jerusalem hat al-‘Esawiyah keinen ordnungsgemäßen
Rahmenplan, der die Bedürfnisse der Einwohner widerspiegelt.
Das unvermeidliche Ergebnis ist eine untragbare Überfüllung,
die einem Flüchtlingslager gleicht, baufällige Infrastruktur
und ständige Angst von tausenden von Familien, die
befürchten, das ihr karges Heim zerstört wird. Über die
Hälfte der Häuser in al-‘Esawiyah (ca. 2.000 Einheiten)
wurden ohne Genehmigung gebaut, da die Einwohner keine
andere Wahl haben.
Al-‘Esawiyah-Einwohner haben nicht vergessen, dass 90 %
ihres Landes von dem israelischen Besetzer konfisziert
wurde. Dieses Land wird nun von der Hebräischen Universität,
dem Hadassah Mount Scopus Medical Center, den benachbarten
jüdischen Vierteln (French Hill und Tzameret Habira, beides
sind Siedlungen nach internationalem Recht), der Siedlung
von Ma‘ale Adumim genutzt sowie als Militär- und
Polizeistützpunkte. Im Süden von al‘-Esawiyah, wo das letzte
verbliebene Bauland liegt, planen die israelischen Behörden
die Gründung eines Nationalparks. Al-‘Esawiyah bleibt in
einer Enklave, ohne Aussichten auf Entwicklung.
Die Bedingungen in dem Viertel sind keine Art
unausweislichen Schicksals. Sie sind das direkte Ergebnis
der von Israel angewandten Politik, einer Politik, die
Palästinenser nicht als Menschen mit gleichen Rechten
betrachtet, sondern als unerwünschtes Übel, von dem man sich
befreien muss, um eine jüdische Mehrheit in der Stadt zu
erhalten. Ohne eine Änderung dieser Politik wird sich das
Leben im Viertel nicht ändern.
Euer Eyal Harezveni, B‘Tselem Forscher und Autor des neuen
Berichtes „This is Jerusalem: Violence and Dispossession in
al-‘Esawiyah“ (Dies ist Jerusalem: Gewalt und Enteignung in
al-‘Esawiyah)
Hier einige Berichte der letzten Wochen von B‘Tselem:
1. Seit die Corona-Krise begann und trotz der von Israel
eingeführten unvorhersehbaren sozialen Abstand-Maßnahmen hat
die vom Staat gedeckte Siedlergewalt in der Westbank
zugenommen. Bei diesen gewalttätigen Zwischenfällen wurden
Palästinenser mit Keulen, Äxten, Elektroschocks, Steinen und
Kampfhunden angegriffen, was schwere Verletzungen
verursachte. Die Siedler griffen auch Häuser an, setzten
Autos in Brand, verübten Vandalismus, rissen Olivenbäume und
andere Kulturgewächse aus und stahlen Vieh. Seit Jahren hat
Israel als eine Art Politik erlaubt, Palästinenser
anzugreifen und deren Eigentum praktisch ungehindert zu
beschädigen. In einigen Fällen schützten Soldaten, die vor
Ort waren, die Angreifer, in anderen beteiligten sie sich an
dem Angriff. Im Laufe der Monate März und April sammelten
B‘Tselems Feldforscher Dutzende von Zeugenaussagen über
gewalttätige Angriffe, die aus einem einzigen Grund
erfolgten – um die Palästinenser von ihren Ländereien und
aus ihren Häusern zu vertreiben.
2. Die mit der Besatzung einhergehende alltägliche Gewalt
ging in der Westbank weiter, sogar, als die Welt aufgrund
der Corona-Pandemie zum Stillstand kam. Vom 1. März 2020 bis
zum 3. April 2020 führten die israelischen Sicherheitskräfte
Razzien in 100 Häusern der Westbank durch und inhaftierten
217 Palästinenser, 16 von ihnen waren minderjährig.
B‘Tselems Feldforscher dokumentierten die Nachtrazzien bei
12 Häusern, acht davon gehörten Mitgliedern einer
Großfamilie. Die Berichte enthüllten das gewaltsame
Eindringen der Soldaten in die Häuser und wie sie Kinder
und andere Familienmitglieder erschreckten, ihr Hab und Gut
zerstörten und Verwüstungen anrichteten und dabei die von
den Behörden (in Israel und in der Westbank) ergriffenen
Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus schamlos
ignorierten.
3. Am 1. Mai, dem internationalen Tag der Arbeit, sprachen
wir die Arbeitsbedingungen von Zehntausenden von
palästinensischen Arbeitern in Israel an. Sie gehören zu den
am wenigsten geschützten und routinemäßig ausgebeuteten
Arbeitern. Israel verkündete, dass palästinensische
Arbeiter, die während der Corona-Pandemie weiterhin
arbeiten, aus Angst vor einer Infizierung nicht nach Hause
zurückkehren dürften. Die Behörden stellten jedoch keine
Richtlinien über deren Unterbringung in Israel auf, sondern
überließen sie dem Wohl und Wehe ihrer Arbeitgeber. Einige
mussten auf den Baustellen unter unzumutbaren Bedingungen
übernachten. Diejenigen, die es vorzogen, nach Hause
zurückzukehren, erhielten keinen Lohn und wurden gefeuert.
Drei palästinensische Arbeiter teilten ihre Erfahrung mit
uns und berichteten uns von der schweren Wahl, die sie
treffen mussten.
4. Im Laufe des Januars und Februars 2020 blockierte das
Militär den Zugang zu fünf Dörfern in der Westbank als
Kollektivstrafe. Die Schließungen betrafen10.000
Westbank-Einwohner. Sie ruinierten ihr Leben völlig und
hinderten sie daran, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zur
Schule zu gehen, ihr Land zu bearbeiten, medizinische
Behandlung zu bekommen oder auch nur, einen vernünftigen
Tagesablauf einzuhalten. Diese Art Kollektivbestrafung, die
Einwohner, die nichts Unrechtes getan haben und gegen die
kein Verdacht vorliegt, dazu zwingt, unter ungewissen und
frustrierenden Bedingungen und Vergeudung wertvoller Zeit
und Geld zu leben, ist völlig unberechtigt und ein
Missbrauch von Militärgewalt.
5. Zurück zu al-‘Esawiyah: Seit Jahresbeginn wurden drei
Minderjährige verletzt, als (sponge bullets) mit Schaumstoff
umwickelte Stahlgeschosse im Rahmen. der anhaltenden
Polizei-“Operation“ in dem Viertel auf sie abgefeuert
wurden. Sie waren acht, neun und 16 Jahre alt. Das jüngste
Opfer verlor ein Auge. Diese Art Geschosse mitten in ein
bewohntes Viertel abzufeuern, kann zu schweren und sogar
fatalen Folgen führen. Um derartige Folgen zu verhindern,
schränken die Regeln den Einsatz solcher Munition ein, wie
das Feuern auf den Oberkörper oder auf Minderjährige und
begrenzen die minimale Reichweite des Schusses.
Nichtsdestotrotz wurden in den letzten Jahren Hunderte von
Palästinensern in Ostjerusalem durch diese Schaumstoff
ummantelten Geschosse verletzt, darunter auch Minderjährige.
Trotzdem weigert sich die israelische Polizei, die Regeln
für offenes Feuer zu ändern, die solche Verletzungen
zulassen. |