TRANSLATE
Warum Israel kein „jüdischer
Staat“ sein kann
Sari Nusseibeh, Aljazeera, 30.Sept. 2011
1,6 Milliarden Muslime und 2,4 Milliarden
Christen sehen Jerusalem als heilig an – das sind 55% der
Weltbevölkerung.
Das augenblickliche Mantra der israelischen
Regierung ist, dass die Palästinenser einen „jüdischen Staat“
anerkennen müssen. Natürlich haben die Palästinenser klar und
wiederholt den Staat Israel anerkannt wie z.B. 1993 beim
Osloabkommen ( was sich auf ein israelisches Versprechen
gründete, innerhalb von fünf Jahren einen palästinensischen
Staat zu errichten – ein Versprechen, das nie gehalten wurde)
und seitdem viele Male. Vor kurzem jedoch haben israelische
Führer dramatisch und einseitig die Spielregeln verändert und
behaupten jetzt, dass die Palästinenser Israel als „jüdischen
Staat“ anerkennen müssen.
1946 beschloss das anglo-amerikanische
Untersuchungs-Komitee, dass die Forderung nach einem „Jüdischen
Staat“ nicht Teil der Verpflichtungen der Balfour-Erklärung oder
des Britischen Mandates sei. Sogar auf dem Ersten Zionistischen
Kongresses in Basel 1897, als die Zionisten versuchten „ein Heim
für das jüdische Volk zu schaffen“, gab es keine Erwähnung von
einem „jüdischen Staat“. Die zionistische Organisation
bevorzugte zuerst die Beschreibung einer „jüdischen Heimstätte“.
Viele zionistische Führer aus der Pionierzeit, wie Judah Magnes
und Martin Buber vermieden auch klar den ausdrücklichen Begriff
„Jüdischer Staat“ für ihr Projekt eines Heimatlandes für Juden
und zogen stattdessen das Konzept eines demokratischen
bi-nationalen Staates vor.
Heute jedoch gibt es von Seiten israelischer
Politiker immer mehr die Forderung nach einem „jüdischen Staat“
ohne darüber nachzudenken, was dies bedeutet. Seine Unterstützer
behaupten, es wäre so natürlich, wie man Frankreich einen
französischen Staat nennt. Doch wenn man dies unvoreingenommen
betrachtet, ist die Idee eines „Jüdischen Staates“ logisch und
moralisch problematisch, wegen seiner rechtlichen, religiösen,
historischen und sozialen Auswirkungen. Wenn die Auswirkungen
bekannt wären, würden die meisten israelischen Bürger diese
nicht akzeptieren.
Viele Auswirkungen
-
kommt es zunächst zu einer
Verwirrung, weil der Terminus „Jüdisch“ verwendet werden
kann für die alte Ethnie der Israeliten und ihre Abkommen,
als auch für jene, die glauben und die Religion des
Judentums praktizieren. Das überschneidet sich im
allgemeinen, aber nicht immer. Denn einige ethnische Juden
sind Atheisten und andere sind zum Judentum konvertiert.
-
denken wir auch daran, wenn ein
moderner Nationalstaat durch eine Ethnie oder eine Religion
definiert wird, dann ist das an sich schon problematisch,
wenn nicht widersprüchlich – weil der moderne Nationalstaat
als solcher eine temporale und bürgerliche Einrichtung ist,
weil kein Staat in der Welt praktisch ethnisch oder religiös
homogen sein kann.
-
Die Anerkennung Israels als
„Jüdischer Staat“ impliziert, dass Israel entweder eine
Theokratie ist oder sein sollte oder ein Apartheidstaat.
Israel ist dann keine Demokratie mehr, worüber die Israelis
seit der Gründung des Staates stolz waren.
-
Wenigstens einer von fünf
Israelis – also 20% der Bevölkerung - sind ethnisch Araber
( und meistens entweder Muslime, Christen, Drusen oder Bahai)
und wenn diese Israel als „jüdischen Staat“ anerkennen,
würde ein Fünftel der Bevölkerung automatisch zu Fremden in
der eigenen Heimat. Dies öffnet die Tür, sie legal zu
reduzieren – meist undemokratisch - und sie zu Bürgern 2.
Klasse zu machen ( und womöglich ihnen die
Staatsbürgerschaft und andere Rechte entziehen.)
-
Einen jüdischen Staat anerkennen
wie den in Israel, würde rechtlich bedeuten, dass
Palästinenser dort keine Bürgerrechte mehr haben, aber
irgendein Mitglied des Weltjudentums außerhalb Israels (
etwa 10Millionen) sollte für volle Bürgerschaft berechtigt
sein, egal woher es ist und egal welche Staatsbürgerschaft
es im Augenblick hat. Tatsächlich gibt Israel öffentlich zu,
dass es nicht Land zugunsten seiner Bürger festhält,
sondern für alle Zeiten treuhänderisch für die Juden der
Welt verwaltet. Das ist etwas, das praktisch geschieht. Aber
offensichtlich sehen das die Palästinenser in den besetzten
Gebieten – einschließlich Jerusalem nicht als fair an,
besonders da sie ständig unter Zwang von Israel aus ihrer
alt eingesessenen Heimat vertrieben werden, um Platz für
ausländische jüdische Siedler zu machen und Palästinensern
der Diaspora dasselbe Recht zu kommen und dort zu leben,
verweigert wird.
-
bedeutet dies, bevor
Endstatus-Verhandlungen überhaupt begonnen haben, dass
Palästinenser die Rechte der Repatriierung oder
Kompensationen von 7 Millionen Palästinensern in der
Diaspora aufgegeben haben. 7 Millionen Palästinenser stammen
von den Palästinensern ab, die 1900 im historischen
Palästina ( d.h. heute: Israel, Westbank, einschließlich
Ostjerusalem und Gaza) lebten und damals 800 000 von seinen
840 000 Bewohner ausmachten und die von ihrem Land durch den
Krieg vertrieben wurden.
-
den „Jüdischen Staat“ in Israel
anerkennen – ein Staat, der vorgibt, das ganze Jerusalem –
Ost und West - zu annektieren und Jerusalem seine „ewige
und ungeteilte Hauptstadt nennt ( als ob die Stadt oder die
Welt selbst ewig wären; als ob sie wirklich ungeteilt wäre,
als ob sie tatsächlich rechtlich von der internationalen
Gemeinschaft als Israels Hauptstadt anerkannt wäre). Das
bedeutet vollkommenes Ignorieren der Tatsache, dass
Jerusalem für 2,2 Milliarden Christen und 1,6 Milliarden
Muslime heilig ist, wie es dies auch für 15-20 Millionen
Juden weltweit ist..
Mit andern Worten, dies würde das Judentum
gegenüber den Religionen der Christenheit und des Islam
privilegieren, deren Anhänger zusammen 55% der Weltbevölkerung
ausmachen.
Bedauerlicherweise wird dieses Narrativ sogar
vom bekannten jüdischen Autor und Nobelpreisträger Elie Wiesel
propagiert, der am 15. April 2010 ganzseitige Inserate in The
New York Times und The Washington Post setzen ließ, die
behaupteten, dass „Jerusalem mehr als 600 mal in der Bibel
erwähnt sei und nicht ein einziges mal im Koran. Nun will ich
nicht über die einheimischen palästinensischen arabischen
Christen sprechen, außer dass Jerusalem offensichtlich die
Stadt Jesu Christi, dem Messias, ist; sondern als Muslime
glauben wir, dass Jerusalem nicht die dritt heiligste Stadt des
Islam ist, wie oft behauptet wird, sondern einfach eine von
Islams drei heiligen Städten. Und im Gegensatz zu dem was Elie
Wiesel zu glauben scheint, kommt Jerusalem tatsächlich im
Heiligen Koran vor und zwar in der Sure al-Isra (17,1)
„Gelobt sei ER, der Seinen Diener bei Nacht
vom Heiligen Platz des Gottesdienstes zum Al-Aqsa-Platz des
Gottesdienstes brachte, dessen Gelände Wir segneten …
(( dann kommen viele Zitate aus dem AT aus
Deuteronomium 7und 9, Josua 6, 1, Samuel 15))
Demokratie oder Jüdischer Staat ?
Trotz allem bleibt es wahr, dass im AT Gott
befiehlt, dass der jüdische Staat im Land Israel durch Krieg und
gewalttätige Enteignung der ursprünglichen Bewohner entstand.
Außerdem hat dieser Befehl seine Wurzeln in Gottes Bund mit
Abraham ( oder besser „Abram zu jener Zeit) in der Bibel und
bildet so eines der Kernstücke des Judentums als solches,
wenigstens wie wir sie verstehen. Niemand kann also die
Palästinenser und die Nachkommen der frühen Kanaaniter,
Jebusiten und andere, die im Lande wohnten, bevor die alten
Israeliten kamen, die kleine Beklemmung verdenken, die sie in
bezug auf die Anerkennung Israels als „Jüdischer Staat“ befällt,
besonders gegenüber gewissen orthodoxen und ultraorthodoxen
Juden. Niemand kann es den Palästinensern übel nehmen, dass sie
fragen, ob die Anerkennung Israels als ein „jüdischer Staat“
soviel bedeutet wie Legitimität offensiver Kriegsführung oder
Gewalt gegen sie durch Israel und das von ihnen zu nehmen, was
von Palästina übrig bleibt.
Wir brauchen das kaum sagen, dass dies vor
einem Hintergrund geschieht, wo jeden Tag die israelische
Siedlerbewegung in der Westbank und in Jerusalem mehr Land
wegnimmt ( allein in der Westbank sind jetzt 500 000 Siedler).
Ihnen wird von der jetzigen Regierung geholfen, sie werden
begünstigt, finanziert und ermächtigt. Gleichzeitig werden immer
mehr Palästinenser auf sehr verschiedene Weise rausgeworfen,
dass man Bücher darüber schreiben könnte. Außerdem gibt es
glaubwürdige Berichte, dass trotz fast universalem Abkommen in
Rabbinischen Texten während der Jahrhunderte, der göttliche
Befehl, die Amalekiter zu töten, ein einziger und isolierter
Vorfall war, der nur gegen die alten Amalekiter angewandt wurde.
Es gibt jetzt in gewissen religiösen Schulen in Israel Leute,
die Parallelen ziehen zwischen den alten Amalekitern und
ähnlichen (Das war offensichtlich die Meinung des Rabbi
Mordechai Eliyahu, einem früheren Oberrabbiner von Israel; man
vgl. auch Shulamit Alonis Artikel :“Mord unter dem Deckmantel
von Rechtschaffenheit“ Counterpunch, 8.9.2003)
Kurz gesagt: Die Anerkennung Israels als ein
„jüdischer Staat“ in Israel ist nicht dasselbe – sagen wir mal
– wie die Anerkennung Griechenlands heute als „Christlichen
Staat“. Im AT selbst macht es einen Bund zwischen Gott und einem
auserwählten Volk erforderlich, bezüglich eines verheißenen
Landes, das mit Gewalt den Bewohnern, auch Nicht-Juden des
Landes, genommen werden soll. Diese Idee gibt es in keinen
anderen Religionen, die wir kennen. Selbst säkulare und
progressive Stimmen in Israel, wie der frühere Präsident des
Obersten Gerichtshofes von Israel Aharon Barak verstehen das
Konzept eines „Jüdischen Staates“ wie folgt:
„Der jüdische Staat ist der Staat des
jüdischen Volkes … es ist ein Staat in den jeder Jude ein Recht
hat, zurückzukehren … ein jüdischer Staat leitet seine Werte aus
seinem jüdischen Erbe ab, die Bibel ist die Grundlage seiner
Bücher und Israels Propheten sind die Grundlage seiner Moral …
ein jüdischer Staat ist ein Staat, in dem die Werte von Israel,
der Tora, jüdisches Erbe und die Werte der jüdischen Halacha die
Grundlage seiner Werte sind.
Statt von den Palästinensern zu verlangen,
Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, schlagen wir vor, dass
Israels Führer darum bitten, Israel als zivilen,
demokratischen, pluralistischen Staat anzuerkennen, dessen
offizielle Religion das Judentum und dessen Mehrheit jüdisch
ist. Viele Staaten (einschließlich Jordanien und Ägypten und
Länder wie Griechenland) haben ihre offizielle Religion wie das
Christentum oder den Islam ( aber gewähren allen Bürgern die
gleichen Rechte). Es gibt keinen Grund, warum die israelischen
Juden nicht die jüdische Religion als offizielle Religion
ihres Staates wünschen können. Dies ist eine vernünftige
Forderung, die die Ängste der jüdischen Israelis zerstreut, eine
Minderheit in Israel zu werden und gleichzeitig nicht die Ängste
der Palästinenser und Araber hochkommen lässt, ethnisch in
Palästina gesäubert zu werden. Die Anerkennung der jüdischen
Religion als offizielle in Israel, statt Israel als „jüdischen
Staat“ anzuerkennen, würde auch bedeuten, dass Israel weiter
eine Demokratie sein kann.
Sari Nusseibeh ist Professor für Philosophie
an der Al-Quds-Universität in Jerusalem.
(dt. und sehr gekürzt: Ellen
Rohlfs)