TRANSLATE
Sprechen über die Besatzung
Israelische Soldaten berichten
über ihre Einsätze in den Palästinensergebieten
von Meron Rapoport (10.2011)
Ich
kann dir sagen, wann ich ausgerastet bin. Wir waren
in Gaza im Einsatz. … Wir hockten in einem Graben,
und da waren Kinder, die immer näher kamen und
Steine warfen. In den Vorschriften heißt es, wenn
einer so nah an dich rankommt, dass er dich mit
einem Stein treffen kann, dann kann er dich auch mit
einer Granate treffen … Also hab ich auf ihn
geschossen. Er war vielleicht zwölf oder fünfzehn
Jahre alt. Ich glaube nicht, dass ich ihn getötet
habe. Jedenfalls rede ich mir das selbst ein, für
meinen inneren Frieden, damit ich nachts besser
schlafen kann. Ausgerastet bin ich, als ich aus
lauter Verzweiflung mit meinen Freunden, mit meiner
Familie darüber gesprochen habe, dass ich verdammt
noch mal [mit einer Waffe] auf jemanden gezielt und
ihm ins Bein geschossen hab, oder in den Arsch. Alle
waren froh, [sie meinten,] ich solle erleichtert
sein, ich sei ein Held, sie erzählten es in der
Synagoge, während ich unter Schock stand."1
In seinem Buch "Ist
das ein Mensch?" erinnert sich Primo Levi an einen
Traum, den er wiederholt in Auschwitz träumte (und
den, wie er später erfuhr, auch viele andere
Häftlinge hatten).(2) In diesem Traum war Levi
wieder zu Hause und erzählte seiner Familie von
seinen grauenhaften Erlebnissen im Lager, aber
keiner hörte ihm zu, ja seine Verwandten standen
sogar vom Tisch auf und entfernten sich. Dies war
sein Albtraum: dass er Zeugnis ablegte, seine
Geschichte erzählte und keiner würde zuhören und ihn
verstehen.
Gaza ist nicht
Auschwitz, und die israelischen Soldaten, deren
Zeugnisse, wie die eingangs zitierte Passage, in "Occupation
of the Territories" (Besatzung der Gebiete)
veröffentlicht wurden, sind keine Überlebenden der
Schoah. Dennoch haben sie etwas mit Levi gemein: Sie
verspüren den Drang, ja beinahe Zwang, ihre
Geschichte zu erzählen, und sie haben das Gefühl,
dass in ihrer Umgebung niemand zuhören will. Als
würden ihre beunruhigenden Geschichten die Zuhörer
bedrohen, die lieber darüber hinweggehen oder, wie
im hier zitierten Fall, das Erzählte
uminterpretieren und in vorgestanzte Phrasen
übersetzen, die ihren festen Vorstellungen darüber
entsprechen, was sich da drüben im Westjordanland
oder in Gaza wirklich abspielt.
"Was sollen die
Eltern dieses Soldaten ihm deiner Ansicht nach
sagen? ,Mach dir nichts draus, dass du ein Kind
erschossen hast?' Sie entziehen sich lieber seinem
Dilemma", erklärt der Exsoldat Avihai Stoler, einer
der Mitstreiter des Augenzeugenprojekts.
Die Männer und
Frauen, die in "Occupation of the Territories" über
ihre Erfahrungen berichten, waren in den letzten
zehn Jahren, also seit Beginn der zweiten Intifada,
in verschiedenen Truppengattungen im Gazastreifen
oder im Westjordanland im Einsatz. Und manche sind
es noch immer. Dieses Buch ist mit Abstand die
umfassendste Innenansicht des israelischen Modus
operandi in den palästinensischen Gebieten: Dabei
geht es weder um die große Politik noch um
Enthüllungen geheimer Machenschaften, sondern
schlicht um den Alltag der israelischen
Militärherrschaft über die Häuser und Felder, die
Gassen und Straßen, den Besitz und die Zeit, das
Leben und den Tod eines jeden im Westjordanland oder
in Gaza lebenden Palästinensers.
In den letzten zehn
Jahren haben etwa 40 000 bis 60 000 Israelis in
Kampfeinheiten gedient.(3 )Etwa 750 davon wurden für
das vorliegende Buch interviewt. Wenn man davon
ausgeht, dass jeder, der in einer Kampfeinheit war,
einen Teil seines Militärdienstes in den besetzten
Gebieten absolviert hat (was auf die Luftwaffe und
Marine nicht zutreffen dürfte), dann sind in diesem
Buch die Zeugnisse von ein bis zwei Prozent der in
den Palästinensergebieten eingesetzten Soldaten
versammelt - eine beachtliche Anzahl und wesentlich
mehr, als in jeder wissenschaftlichen Erhebung oder
Meinungsumfrage zugrunde gelegt wird.
Man kann nach der
Lektüre zu anderen Schlüssen gelangen als die
Herausgeber des Buchs; man kann der Auffassung sein,
dass die umfassende Kontrolle der Palästinenser
aufgrund der israelischen Sicherheitsinteressen
gerechtfertigt sei, aber man kann nicht mehr sagen,
man wisse von nichts.
Die Organisation
Shovrim Shtika ("Das Schweigen brechen"), die die
Zeugnisse gesammelt und in einem schwarz
eingebundenen Buch veröffentlicht hat, wurde 2004
von einigen Soldaten gegründet, die in Hebron
stationiert waren. Sie wollten der Welt und der
israelischen Gesellschaft die Besatzung aus der
Perspektive der Soldaten zeigen. In den ersten
Jahren waren sie, wie sie heute selbst zugeben, vor
allem darauf aus, "Horrorstorys" zu sammeln.
Schockierende Fotos von Soldaten, die getöteten
Palästinensern die Köpfe abschlugen, um sie auf
Gewehrläufen aufzuspießen, kamen als Erstes in die
Presse. Aber je mehr Berichte die Interviewer
(selbst allesamt ehemalige Soldaten) sammelten,
desto klarer wurde ihnen, dass sie bei der
Fokussierung auf extrem grausame Fälle etwas
versäumten. "Wir interessieren uns nicht für den
Soldaten, der am Checkpoint einen alten Mann
misshandelt", erklärte Gründungsmitglied Michael
Menkin bei der Buchvorstellung in Tel Aviv. "Wir
interessieren uns für den Soldaten, der daneben
steht", für den "ganz normalen" Soldaten.
Nicht dass
Misshandlungen, willkürliche Gewalt und beiläufige
Tötungen, die an Kriegsverbrechen grenzen, in dem
Buch nicht zur Sprache kämen: Ein geistig
behinderter Palästinenser wird so heftig verprügelt,
dass er am ganzen Leib blutet; palästinensische
Passanten werden gezwungen, auf ein Minarett zu
steigen, um vermeintliche Bomben zur Detonation zu
bringen; ein unbewaffneter Palästinenser wird
erschossen, nur weil er zufällig auf einem Hausdach
steht.
Die Geschichte einer
Generation
"Wenn du mich heute
fragst: Warum hast du geschossen? Aus bloßem Druck,
ich hab dem Druck der anderen Jungs nachgegeben",
heißt es dann. Ein Soldat berichtet über die
vorsätzliche Tötung beziehungsweise Hinrichtung
eines unbewaffneten palästinensischen Polizisten aus
Rache für den Angriff auf einen Checkpoint; zitiert
wird die Anweisung eines hochrangigen Offiziers, wie
mit mutmaßlichen Terroristen zu verfahren sei, die
verwundet oder tot am Boden liegen: "Stößt du auf
eine Leiche, steck dein Gewehr zwischen ihre Zähne
und drück ab"; und es gibt Schilderungen von
Diebstählen, Plünderungen und mutwilligen
Zerstörungen von allen möglichen Dingen - Kleidern,
Möbeln oder Autos.
Die vorliegende
Sammlung von Augenzeugenberichten enthält all diese
Geschichten, aber sie enthält noch viel mehr.
"Dieses Buch ist keine Horrorshow der Tsahal
[Streitkräfte]", sagt Stoler, "es ist die Geschichte
einer Generation, unserer Generation."
Der Titel "Occupation
of the Territories" wurde nicht zufällig gewählt.
Während sich in den ersten 30 Jahren nach dem
Sechstagekrieg 1967 ein Großteil der
innenpolitischen Diskussion um die Notwendigkeit
beziehungsweise das Übel der Besatzung drehte, ist
das Wort "Besatzung" in den letzten Jahren fast
vollständig aus der Debatte in Israel verschwunden.
Wenn sich ein Israeli auf die besetzten
Palästinensergebiete bezieht, spricht er oder sie
von Judäa und Samaria, vom Westjordanland oder von
"den Territorien", aber niemals, wie noch vor 15
Jahren üblich, von den "besetzten Gebieten". Es ist
wie ein Tabu oder ein Unheil bringendes Wort, das in
der Öffentlichkeit keiner in den Mund nimmt.
Als ich einmal die
Aufnahme einer Talkshow leitete und ein Gast sagte,
dass die Gewalt in der israelischen Gesellschaft
"wegen der Besatzung" immer weiter zunehme,
bedrängten mich meine Kollegen im Kontrollraum -
geradezu von Panik ergriffen -, ich solle dem
Moderator zu verstehen geben, dass der Gast seine
Äußerung umgehend zurücknehmen müsse.
Für diesen Wandel
gibt es mehrere Gründe. Erstens fanden es viele
Israelis richtig, dass die Armee während der Zweiten
Intifada nahezu eine Blankovollmacht für die
Terrorabwehr hatte. Es erwartete auch niemand eine
detaillierte Rechenschaft über ihr Tun. Zweitens
wurde der unendliche und völlig vergebliche
"Friedensprozess" immer mehr zu einer Art
Hintergrundmusik für die israelische Öffentlichkeit,
was sich auf zweierlei Weise bemerkbar machte:
Allmählich setzte sich die Überzeugung durch, dass
es mit der Lösung des Konflikts keine Eile habe oder
er eigentlich sogar schon gelöst sei, weil doch "wir
Israelis" der Aufgabe der besetzten Gebiete und
einer Zweistaatenlösung längst zugestimmt haben. Die
Geschichte der "Territorien" sei beendet, schrieb
kürzlich der angesehene israelische Kolumnist Nahum
Barnea.
Abgesehen von den
politischen Faktoren spielt ein militärischer Aspekt
eine zentrale Rolle: Seit der Zweiten Intifada und
vor allem seit Beginn des Mauerbaus im
Westjordanland im Herbst 2002 hat die Kontrolle über
die Palästinenser an Methodik und Systematik
gewonnen. Sie ist quasi "wissenschaftlicher"
geworden. "Occupation of the Territories" versucht
diesen einschneidenden Wandel publik zu machen und
den damit einhergehenden Militärjargon zu entlarven.
Im Laufe der Jahre hat Shovrim Shtika so viel
Material gesammelt, dass die Gruppe dazu
übergegangen ist, neue Begriffe und Umschreibungen
zu verwenden, um die Dinge beim Namen zu nennen:
Statt von "Terrorprävention" im Westjordanland und
in Gaza sollten wir über die Angst sprechen, die
unter den Palästinensern verbreitet wird, anstatt
"Separation" zu sagen, sollten wir die Ausdrücke
"Inbesitznahme und Annexion" verwenden, statt
nebenher über "Fabric of Life"-Straßen zu reden (das
ist die militärische Bezeichnung für die
Straßenverbindungen zwischen den durch Sperranlagen
getrennten Dörfern), sollten wir uns lieber vor
Augen führen, welche Mühsal es bedeutet, unter
solchen Bedingungen den Alltag zu organisieren; und
statt "Kontrolle" sollten wir auch hier in Israel
"Besatzung" sagen.
"Unsere Mission war
es, zu zerstören - das war der Ausdruck, der
verwendet wurde -, das Leben der Bürger zu stören
und sie zu schikanieren", erzählt ein Zeuge. "So war
unsere Aufgabe definiert, weil auch Terroristen ganz
normale Bürger sind; wir wollten die terroristischen
Aktivitäten unterbinden, und das wurde operativ so
umgesetzt, dass wir die Bürger in ihrem Alltag
schikanierten. Ich bin mir diesbezüglich ganz
sicher, und ich glaube, es steht bis heute so in den
Dienstanweisungen, falls sie den Befehl nicht
geändert haben."(4)
Dies ist vielleicht
wirklich eine neue Erkenntnis, die das Buch von
Shovrim Shtika ans Licht bringt: Dass Drangsalierung
und Schikane der palästinensischen Bevölkerung nicht
allein mit Unachtsamkeit und Rücksichtslosigkeit zu
tun haben (die natürlich auch vorkommen), sondern
dass sie ein zentraler Bestandteil des Modus
operandi der israelischen Besatzungsmacht im
Westjordanland sind.
"Wenn in einem Dorf
irgendwelche Aktivitäten vor sich gehen, sorgst du
dafür, dass niemand mehr zur Ruhe kommt und nachts
schlafen kann", erzählt einer der Zeugen. Stoler,
der fast drei Jahre in der Gegend von Hebron im
Einsatz war, hat mit Soldaten gesprochen, die mitten
in einem Dorf eine Bombe hochgehen ließen, "damit
sie merken, dass wir hier sind". "Lautstarke
Patrouille", "Gewaltpatrouille", "Präsenz
demonstrieren", "niedrigschwellige Aktion",
"fröhliches Purim" sind einige der Namen für solche
Aktionen. Dabei fallen die Soldaten mit massivem
Aufgebot in ein Dorf oder eine Stadt ein, werfen
Schockgranaten, errichten Straßensperren,
durchsuchen wahllos Häuser und richten sich dann für
ein paar Stunden oder auch Tage dort ein. "Um [unter
den Palästinensern] Verfolgungsängste zu schüren,
damit sie sich niemals sicher fühlen", zitiert
Stoler den Befehl, den er selbst erhalten hat.
Stoler und Avner
Gvaryahu gehörten einer Eliteeinheit an, deren
Erfolg - so erklärte es ihnen ein hoher Offizier -
an der Anzahl toter Terroristen gemessen wurde.
Beide sind sich bewusst, dass die Gesellschaft nicht
hören will, was sie zu sagen haben. Zur
Buchvorstellung ist nicht ein einziger israelischer
Fernsehsender gekommen, nur ausländische Medien. Als
sei die Not und das Unbehagen so vieler israelischer
Soldaten nur in Japan oder in Australien von
Interesse, aber nicht in Israel. Über die
Geschichten von Shovrim Shtika breitet sich ein
großes Schweigen.
"Mein Vater gehört
zur zweiten Generation der Überlebenden der Schoah",
sagt Gvaryahu, "in seinen Augen sind wir die
Verfolgten und Elenden." Dennoch sind Stoler und
Avner erstaunlich optimistisch. Beide glauben, dass
die israelische Gesellschaft eines Tages begreifen
wird, was in ihrem Namen geschieht, und sich dann
ändern wird. Denn es ist die Gesellschaft selbst,
die sich ändern muss, nicht die Armee.
"Einmal wurde ich
von einer kolumbianischen Journalistin interviewt",
erinnert sich Stoler, "und die fragte mich: ,Woher
die ganze Aufregung? In Kolumbien schlagen die
Soldaten jeden Tag Rebellenköpfe ab, und das kümmert
niemanden.' Ich glaube, dass die israelische
Gesellschaft moralisch sein möchte. Und das ist es,
was uns antreibt. Wenn es diesen kollektiven Willen
zur Moralität nicht gäbe, hätte unser Projekt keinen
Sinn."
"Die israelische
Gesellschaft wurde gekidnappt von Leuten, deren
Interessen sich nicht mit unseren decken", meint
Gvaryahu. "Doch wir haben uns, wie beim
Stockholm-Syndrom, in unsere Entführer verliebt. Es
ist leicht zu sagen, die Siedler seien unsere
Geiselnehmer, sie würden hinter der Maske stecken.
Aber daran glaube ich nicht. Das wahre Gesicht
hinter der Maske der Entführer ist unser eigenes."
Fußnoten:
(1) Shovrim
Shtika (Hg.), "Occupation of the Territories.
Israeli Soldier
Testimonies 2000-2010", Breaking the Silence (NGO),
Israel 2010, Kapitel 1, Zeugnis 45.
(2) Primo Levi, "Ist das ein Mensch?", Frankfurt am
Main (Fischer) 1971.
(3) Israel macht offiziell keine Angaben über seine
Streitkräfte. Laut Schätzungen des International
Institute for Strategic Studies waren 2004 bei den
regulären Streitkräften 85 000 Soldaten registriert;
www.globalsecurity.org/military/world/israel/army.htm.
(4) Shovrim Shtika, "Occupation of the Territories",
siehe Anmerkung 1, Kapitel 3, Zeugnis 5.
Aus dem Englischen
von Robin Cackett
Meron
Rapoport ist freier Journalist in Israel und war
früher Nachrichtenchef bei der Tageszeitung "Ha'aretz.
Le Monde
diplomatique
Nr. 9594
vom 9.9.2011, 395 Zeilen, Meron Rapoport
|