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Jedermanns Sohn
Uri Avnery, 22.10.11
DER VERNÜNFTIGSTE – ich hätte fast
geschrieben „der einzig vernünftige“ Satz – der in dieser Woche
geäußert wurde, kam von den Lippen eines Fünfjährigen.
Nach dem Gefangenenaustausch fragte ihn
einer jener superschlauen TV-Reporter: „Warum haben wir 1027 Araber
für einen israelischen Soldaten aus dem Gefängnis entlassen? Er
erwartete natürlich die übliche Antwort: weil ein Israeli so viel
wert ist wie eintausend Araber.
Der Junge antwortete: „Weil wir viele
von ihnen gefangen nahmen und sie nur einen.“
LÄNGER ALS eine Woche war ganz Israel
wie in einem Rausch. Gilad Shalit beherrschte das Land (Shalit
bedeutet „Herrscher“) Seine Fotos klebten an allen Wänden im Lande,
wie die des Genossen Kim in Nord-Korea.
Es war einer jener seltenen Momente, in
denen Israelis auf sich selbst stolz sein können. Wenige Länder -
wenn überhaupt eines – würden bereit gewesen sein 1027 Gefangene
gegen einen auszutauschen. In den meisten Ländern, einschließlich
der USA, würde es politisch für einen Führer unmöglich gewesen sein,
solch eine Entscheidung zu treffen.
In einer Hinsicht ist es eine
Fortsetzung der jüdischen Ghettotradition. Die „Erlösung eines
Gefangenen“ ist eine heilige religiöse Pflicht, die mit den
Umständen einer verfolgten und zerstreuten Gemeinschaft
zusammenhängt. Wenn ein Jude aus Marseille von muslimischen Korsaren
gefangen wurde, um auf dem Markt von Alexandria verkauft zu werden,
war es die Pflicht der Juden in Kairo, das Lösegeld zu zahlen und
ihn zu „erlösen“.
Wie das alte Sprichwort lautet: „Ganz
Israel garantiert für einander.“
Die Israelis konnten in den Spiegel
schauen und zu sich sagen: „Sind wir nicht wunderbar?“
UNMITTELBAR NACH dem Oslo-Abkommen
schlug Gush Shalom, die Friedensbewegung, zu der ich gehöre, vor,
sofort alle palästinensischen Gefangenen frei zu lassen. Sie sind
Kriegsgefangene, sagten wir, und wenn der Kampf zu Ende ist, sollen
Kriegsgefangene nach Hause gelassen werden. Dies würde eine mächtige
humane Botschaft des Friedens in jede palästinensische Stadt und in
jedes Dorf übermitteln. Wir organisierten eine gemeinsame
Demonstration mit dem verstorbenen arabischen Jerusalemer Führer
Feisal Husseini vor dem Jeneid-Gefängnis nahe Nablus. Mehr als
zehntausend Palästinenser und Israelis nahmen daran teil.
Aber Israel hat diese palästinensischen
Gefangenen nie als Kriegsgefangene anerkannt. Sie wurden als gemeine
Kriminelle, nur noch schlimmer angesehen.
Die in dieser Woche entlassenen
Gefangenen wurden nie als „palästinensische Kämpfer“ erwähnt oder
als „Militante“ oder nur als „Palästinenser“. Jede einzelne Zeitung
und jedes Fernsehprogramm, von der elitären Haaretz bis zur
primitivsten Boulevardpresse erwähnten sie ausschließlich als
„Mörder“ und sicherheitshalber als „gemeine Mörder“
Einer der schlimmsten Tyrannen auf Erden
ist die Tyrannei der Wörter. Wenn einmal ein Wort sich festsetzt,
lenkt es Gedanken und Taten. In der Bibel heißt es : „Tod und
Leben stehen in der Zunge Gewalt.“ (Spr. 18,21). Eintausend
feindliche Kämpfer entlassen, ist eine Sache, ein Tausend gemeine
Mörder entlassen, ist etwas anderes.
Einige dieser Gefangenen haben
Selbstmordattentätern geholfen, eine Menge Leute zu töten. Einige
haben wirklich brutale Taten begangen – wie die hübsche junge
palästinensische Frau, die das Internet benützte, um einen
liebeskranken israelischen Jungen in die Falle zu locken, wo er mit
Kugeln durchsiebt wurde. Aber andere wurden zu lebenslang
verurteilt, weil sie zu einer „illegalen“ Organisation gehörten und
Waffen besaßen oder eine selbst gebastelte Granate auf einen Bus
warfen, ohne jemanden zu verletzen.
Fast alle von ihnen sind von
Militärgerichten verurteilt worden. Wie schon gesagt wurde:
Militärgerichte haben ähnlichen Bezug zum wirklichen Gerichten, wie
Militärmusik zu wirklicher Musik.
Alle diese Gefangenen haben nach
israelischer Redensart „Blut an ihren Händen“. Aber wer von uns
Israelis hat kein Blut an seinen Händen? Gewiss, eine junge
Soldatin, die von weitem eine Drohne dirigiert, die einen
palästinensischen Verdächtigen und seine ganze Familie tötet, hat
kein klebriges Blut an ihren Händen. Auch ein Pilot nicht, der eine
Bombe in ein Wohngebiet fallen lässt und „nur ein leichtes Zittern
des Flügels spürt“, wie ein früherer Stabschef es ausdrückte. (Ein
Palästinenser sagte einmal zu mir: „Gib mir einen Panzer oder ein
Kampfflugzeug, und ich werde den Terrorismus sofort aufgeben.“)
Das Hauptargument gegen den Austausch
war der, dass nach Statistiken des Nachrichtendienstes 15% der bei
solchem Austausch entlassenen Gefangenen wieder aktive Terroristen
werden. Vielleicht. Aber die Mehrheit von ihnen werden aktive
Unterstützer des Friedens. Praktisch alle meine palästinensischen
Freunde sind frühere Gefangene, einige von ihnen waren 12 Jahre oder
länger im Gefängnis. Sie haben hebräisch im Gefängnis gelernt und
haben durch das Fernsehen israelisches Leben kennen gelernt und
sogar einige Aspekte des israelischen Lebens bewundert, wie z.B.
unsere parlamentarische Demokratie. Die meisten Gefangenen wollten
nur nach Hause gehen, sich niederlassen und eine Familie gründen.
Aber während der endlosen Stunden des
Wartens auf Gilads Rückkehr zeigten alle TV-Stationen blutige
Szenen, in denen die Gefangenen, die entlassen werden, involviert
waren, wie die der jungen Frau, die einen Selbstmordattentäter zu
seinem Bestimmungsort fuhr. Es war eine unendliche Hasstirade.
Unsere warme Bewunderung für unsere eigene Tugend wurde mit dem
kalten Gefühl vermischt, dass wir wieder die Opfer sind, die
gezwungen werden, gemeine Mörder zu entlassen, die wieder versuchen
werden, uns zu töten.
Doch all diese Gefangenen sind
leidenschaftlich davon überzeugt, dass sie ihrem Volk in seinem
Freiheitskampf gedient haben. Wie das berühmte Lied: „Erschieß mich
als irischen Soldaten,/ erhäng mich nicht wie einen Hund,/ denn ich
kämpfte für Irlands Freiheit …“ Es sollte auch an Nelson Mandela
erinnert werden, der ein aktiver Terrorist war, der 28 Jahre im
Gefängnis schmachtete, weil er sich weigerte, ein Statement zu
unterzeichnen, das den Terrorismus verurteilt.
Die Israelis, (wahrscheinlich wie die
meisten Völker) sind ziemlich unfähig, in die Schuhe ihrer Feinde
zu schlüpfen. Das macht es praktisch unmöglich, eine intelligente
Politik zu führen – besonders, was dieses Problem betrifft.
WIE WURDE Binjamin Netanjahu dazu
gebracht, nachzugeben?
Der Held der Kampagne ist Noam Shalit,
der Vater. Eine introvertierte Person, die zurückgezogen lebt und
die Öffentlichkeit scheut. Er kam heraus und kämpfte jeden einzelnen
Tag während dieser fünf Jahre und vier Monate. Dasselbe tat auch
seine Mutter. Sie retteten so buchstäblich sein Leben. Es gelang
ihnen, eine Massenbewegung auf die Beine zu bringen, wie es sie
vorher in den Annalen des Staates nie gegeben hat.
Dazu beigetragen hat, dass Gilad wie
jedermanns Sohn aussieht. Er ist ein scheuer junger Mann mit einem
gewinnenden Lächeln, das auf jedem der Fotos und Videos von vor der
Gefangennahme gesehen werden kann. Er sieht ziemlich jung aus,
schmal und bescheiden. Fünf Jahre später – in dieser Woche – sieht
er genau so aus, nur sehr blass.
Wenn unser Nachrichtendienst ihn hätte
ausfindig machen können, hätten sie sicherlich versucht, ihn mit
Gewalt zu befreien. Das hätte gut sein Todesurteil sein können, wie
es so oft in der Vergangenheit war. Die Tatsache, dass sie ihn
nicht finden konnten, trotz der Hunderten von Agenten im
Gazastreifen ist eine bemerkenswerte Errungenschaft von Hamas. Dies
erklärt, warum er in strikter Isolierung gehalten und es niemandem
erlaubt wurde, ihn zu treffen.
Die Israelis waren erleichtert, zu
entdecken, dass er bei seiner Entlassung in guter Verfassung war,
gesund und munter. Nach den wenigen Sätzen, die er unterwegs in
Ägypten von sich gab, wurde er im Gefängnis mit Radio und Fernseher
versorgt und wusste so von den Bemühungen seiner Eltern.
Von dem Augenblick an, an dem er seinen
Fuß auf israelischen Boden setzte, hörte man kein einziges Wort
mehr von ihm, wie er behandelt wurde. Anscheinend war es ihm nicht
erlaubt. Wo wurde er gehalten? Wie war seine Ernährung? Haben die
Gefängniswärter mit ihm gesprochen? Was dachte er über sie? Lernte
er Arabisch? Bis jetzt kam kein einziges Wort darüber,
wahrscheinlich, weil dies so einiges positive Licht auf die Hamas
werfen könnte. Er wird sicher genauestens Instruktionen erhalten,
bevor ihm zu sprechen erlaubt wird.
AUSLÄNDISCHE KORRESPONDENTEN fragten
mich in dieser Woche wiederholt, ob der Handel den Weg zu einem
neunen Friedensprozess geöffnet hat. So weit es die öffentliche
Stimmung betrifft, ist eher das Gegenteil der Fall.
Dieselben Journalisten fragten mich, ob
nicht Binjamin Netanjahu von der Tatsache beunruhigt ist, dass der
Austausch die Hamas stärkt und für Mahmoud Abbas ein schmerzlicher
Schlag ist. Sie waren über meine Antwort verblüfft: das war eine
seiner Hauptgründe, wenn nicht gar der Hauptgrund.
Der Hauptschlag war ein Schlag gegen
Abbas.
Abbas Schritte in der UN haben unsere
rechte Regierung beängstigt. Selbst wenn das einzige praktische
Ergebnis sein würde, dass die Vollversammlung den Staat Palästina
als ein Beobachter anerkennt, würde dies ein großer Schritt in
Richtung palästinensischer Staat sein.
Diese Regierung wie all unsere
Regierungen seit der Gründung Israels – nur noch mehr – ist auf
Biegen und Brechen gegen einen palästinensischen Staat. Er würde dem
Traum von Groß-Israel bis zum Jordan ein Ende setzen und uns
zwingen, einen großen Teil des Landes, das uns Gott versprochen hat,
zurückzugeben und uns zwingen, eine Menge Siedlungen zu evakuieren.
Für Netanjahu und Co. ist das eine
wirkliche Gefahr. Hamas stellt keine Gefahr dar. Was kann sie tun?
Ein paar Raketen abfeuern, ein paar Leute töten – na und? .In keinem
Jahr hat Terrorismus halb so viel getötet, wie in unserm
Straßenverkehr umkamen. Damit kann Israel umgehen. Das Hamasregime
würde wahrscheinlich nicht über den Gazastreifen herrschen, wenn
Israel ihn nicht von der West Bank abgeschnitten hätte, im Gegensatz
zu Israels feierlicher Zusicherung in Oslo, vier sichere Passagen zu
schaffen. Keine wurde jemals eröffnet.
Dies erklärt übrigens auch den
Zeitpunkt. Warum stimmte Netanjahu jetzt in etwas überein, das er
sein ganzes Leben lang bekämpfte? Wegen Abbas, des „gerupften
Hähnchens“, das sich plötzlich in einen Adler verwandelt hat.
Am Tag des Austausches hielt Abbas eine
Rede. Sie klang ziemlich platt. Für den durchschnittlichen
Palästinenser war der Fall ziemlich einfach. Abbas hat in letzter
Zeit mit all seinen israelischen und amerikanischen Freunden keinen
einzigen Gefangenen frei bekommen. Hamas, die Gewalt benützte, hat
mehr als ein Tausend frei bekommen, einschließlich Fatahmitglieder.
Also: „Israel versteht nur die Sprache der Gewalt.“
DIE GROSSE Mehrheit der Israelis
unterstützt den Handel, auch wenn sie davon überzeugt ist, dass die
gemeinen Mörder uns wieder zu töten versuchen werden.
Nie waren die Trennungslinien so klar
wie dieses Mal. Etwa 25 % waren dagegen. Dies schließt all die
extremen Rechten ein, alle Siedler und fast alle
National-religiösen. All die anderen – das große Lager des Zentrums
und der Linken, der Säkularen, Liberalen und moderat Religiösen
unterstützten es.
Dies ist der israelische Mainstream, auf
dem die Hoffnung der Zukunft ruht. Wenn Netanjahu den Palästinensern
in dieser Woche ein Friedensabkommen vorgeschlagen hätte, und wenn
er von den Chefs der Armee, des Mossad und den Shin Bet unterstützt
worden wäre, ( wie in dieser Woche), würde ihn dieselbe Mehrheit
unterstützt haben.
Was die Gefangenen betrifft – weitere
4000 werden noch in Israels Gefängnissen fest gehalten – und diese
Zahl wird wieder wachsen. Die Gegner des Handels haben ziemlich
recht, wenn sie sagen, dass er den palästinensischen Organisationen
einen starken Anreiz gibt, ihre Bemühungen anzuspornen, wieder einen
israelischen Soldaten zu fangen, damit mehr Gefangene entlassen
werden.
Wenn ganz Israel voller Emotionen ist,
weil ein Junge wieder zu seiner Familie zurückgekehrt ist – was
würde das für 4000 Familien auf der andern Seite bedeuten?. Leider
stellen gewöhnliche Israelis diese Frage nicht. Sie haben sich daran
gewöhnt, die palästinensischen Gefangenen nur als Tausch- objekt zu
sehen.
Wie vereitelt man die Bemühungen, mehr
Soldaten zu fangen? Da gibt es nur eine Alternative: den
glaubwürdigen Weg zu öffnen, sie durch ein Abkommen zu entlassen.
Wie zum Beispiel durch Frieden, falls
man mir den Ausdruck entschuldigt.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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