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Das Ghetto im Inneren
Uri Avnery, 24. März 2012
RASSISTISCHE HASS verbrechen sind besonders hässlich.
Wenn die Opfer auch noch Kinder sind, sind sie sogar
noch hässlicher.
Wenn sie von einem Araber gegen jüdische Kinder
begangen werden, sind sie auch unglaublich dumm.
Genau das wurde diese Woche wieder demonstriert.
FALLS TATSÄCHLICH ein arabischer
Al-Qaida-Sympathisant schuldig ist, in Toulouse drei jüdische Kinder
und einen Erwachsenen erschossen zu haben, nachdem er drei
nicht-weiße französische Soldaten in der Nähe erschossen hat,
verursachte er nicht nur große Trauer in deren Familien, sondern
auch großen Schaden dem palästinensischen Volk, dessen Sache er zu
unterstützen behauptete.
Der weltweite Schock fand seinen Ausdruck in einer
Demonstration der Solidarität mit der französischen jüdischen
Gemeinde und indirekt auch mit dem Staat Israel.
Der französische Außenminister flog nach Jerusalem,
wo die jüdischen Opfer beerdigt wurden. Präsident Nicolas Sarkozy –
mitten im Kampf um seine politische Existenz – erschien überall, wo
ein wenig politisches Kapital aus dieser Tragödie gezogen werden
konnte. Benjamin Netanjahu war noch schamloser.
Gerade als an vielen Orten der Boykottaufruf gegen
Israel gehört wurde, erinnerte dieser Akt die Welt an die
verheerenden Spuren des Antisemitismus. Man muss schon sehr mutig
sein, in dieser Zeit den Boykott des „jüdischen Staates“ zu
verlangen. Für Befürworter Israels ist es leicht, an den
Nazi-Schlachtruf „Kauft nicht bei Juden!“ zu erinnern.
In letzter Zeit hat Benjamin Netanjahu in jeder Rede,
die er hält und in der er zu einem Angriff des Iran aufruft, den
Holocaust erwähnt. Er prophezeit einen zweiten Holocaust, wenn nicht
Irans Atomanlagen in tausend Stücke zerschlagen werden. Dies wird
innerhalb Israels als zynische Ausbeutung des Holocaust kritisiert,
aber in der Stimmung, die durch die Gräueltat in Toulouse
geschaffen wurde, ist diese Kritik zum Schweigen gekommen.
EINIGE MÖGEN denken, diese Reaktionen seien
Überreaktionen . Schließlich wurde die Gräueltat von einem einzelnen
24jährigen Verwirrten begangen. Die Opfer waren nicht nur Juden,
sondern auch Muslime. Ist diese Reaktion nicht jenseits aller
Proportionen? Ist diese Reaktion nicht völlig unverhältnismäßig?
Diejenigen, die so reden, verstehen den Hintergrund
der jüdischen Reaktion nicht.
Yeshayahu Leibowich, ein gläubiger Jude, sagte vor
Jahren, dass die jüdische Religion praktisch vor 200 Jahren
gestorben sei und dass das einzige, was alle Juden vereint, jetzt
der Holocaust sei. Da steckt viel Wahrheit dahinter, aber der
Holocaust muss in seinem Kontext verstanden werden – als der
Höhepunkt Jahrhunderte langer Verfolgung.
Fast jedes jüdische Kind in aller Welt wächst mit dem
Narrativ der jüdischen Opferrolle auf. „In jeder Generation stehen
sie auf, um uns zu vernichten,“ sagt der heilige Text, der in jeder
jüdischen Familie in aller Welt in zwei Wochen am Passahabend
gelesen wird. „Sie“ sind – selbstverständlich - die „Goyim“, alle
Goyim (Nichtjuden).
Nach unserem allgemein angenommenen Narrativ sind
Juden überall und immer mit wenigen Ausnahmen verfolgt worden.
Juden mussten überall und zu jeder Zeit damit rechnen, angegriffen
zu werden. Es ist eine sich fortsetzende Geschichte von Massakern,
Massenvertreibungen, vom Hinschlachten durch die Kreuzfahrer, von
der spanischen Inquisition, der russischen und ukrainischen Pogrome.
Der Holocaust war nur ein Glied in jener Kette und wahrscheinlich
nicht das letzte.
Die jüdische Geschichte, die Geschichte der
Opferrolle, beginnt nicht erst mit dem europäisch-christlichen
Judenhass, sondern geht zurück zur (mythischen) Geschichte der
israelitischen Sklaverei in Ägypten, der Zerstörung des Tempels in
Jerusalem durch die Babylonier und noch einmal durch die Römer. Vor
ein paar Wochen wurde das fröhliche Fest Purim gefeiert in
Erinnerung an die biblische (und mythische) Geschichte des Planes,
alle Juden in Persien, dem heutigen Iran, zu vernichten, was durch
eine hübsche und skrupellose junge Frau mit Namen Esther verhindert
wurde. (Am Ende waren es die Juden, die alle ihre Feinde töteten,
Frauen und Kinder eingeschlossen.)
Das Narrativ von der nicht enden wollenden Opferrolle
ist so tief im Bewusstsein und Unterbewusstsein eines jeden Juden,
dass der kleinste Vorfall eine Orgie von Selbstmitleid auslöst, die
ganz unverhältnismäßig erscheint. Jeder Jude weiß, dass wir gegen
eine feindselige Welt zusammen stehen müssen, dass der Angriff auf
einen Juden ein Angriff gegen alle ist, dass ein Pogrom im
entfernten Kishinev die Juden in England sich erheben lässt, dass
ein Angriff auf Juden in Toulouse die Juden in Israel sich erheben
lässt.
Dem Mörder von Toulouse ist es mit seiner
scheußlichen Tat gelungen, das französische – ja, das Weltjudentum
– noch enger an den Staat Israel zu binden.
Schon in den letzten Jahren sind die Verbindungen
noch enger geworden. Ein großer Teil der französischen Juden sind
Immigranten aus Nordafrika, die statt nach Israel nach Frankreich
gingen und deshalb leidenschaftlichere israelische Nationalisten
als die meisten Israelis sind. Sie investieren Geld und kaufen
Häuser in Israel. Im August hört man an Tel Avivs Strand mehr
Französisch als Hebräisch. Jetzt könnten sich viele entscheiden, auf
immer nach Israel zu kommen.
Wie jede antisemitische Tat trägt auch diese zur
Stärkung Israels bei und besonders zur Stärke der israelischen
anti-arabischen Rechten.
ICH BIN davon überzeugt, dass der palästinensische
Ministerpräsident Salam Fayad es ganz ernst meinte, als er die
Gräueltat verurteilte und besonders die Erklärung des Mörders: dass
er den Tod der Kinder in Gaza rächen wolle. Keiner solle den Namen
Palästinas äußern, wenn solch eine gemeine Tat ausgeführt wird,
sagte Fayad.
Ich
wurde an meinen Freund Issam Sartawi erinnert, den palästinensischen
„Terroristen“, der ein großartiger Friedensaktivist und deshalb
ermordet wurde. Er erzählte mir einmal, dass ein französischer
antisemitischer Führer in sein Büro in Paris kam und ihm ein
Bündnis anbot. „Ich warf ihn raus,“ sagte er mir, „ich weiß, dass
die Antisemiten die größten Feinde des palästinensischen Volkes
sind“.
Wie schon viele Male darauf hingewiesen wurde, ist
der moderne Zionismus die Stieftochter des modernen europäischen
Antisemitismus’. In der Tat wurde der Name „Zionismus“ nur ein paar
Jahre, nachdem der Terminus „Antisemitismus“ von einem deutschen
Ideologen geprägt wurde, erfunden.
Ohne Antisemitismus, der Europa von den „Schwarzen
Hundertschaften“ im zaristischen Russland bis zur Dreyfus-Affäre im
republikanischen Frankreich verschlang, würden die Juden sich nach
Zion sicher weitere 2000 Jahre gesehnt haben. Es war Antisemitismus
mit der Drohung kommender schrecklicher Dinge, die sie wegtrieb, und
schenkten der Idee Glauben, dass Juden einen eigenen Staat haben
müssen, wo sie Herren ihres eigenen Schicksals sein würden.
Die ursprünglichen Zionisten beabsichtigten nicht,
einen Staat zu bauen, der eine Art Generalstab für das Weltjudentum
sein würde. Tatsächlich dachten sie, dass es dann kein Weltjudentum
mehr gebe. Nach ihrer Vision würden alle Juden sich in Palästina
versammeln und die jüdische Diaspora würde verschwinden. Das war es,
was Theodor Herzl schrieb und was David Ben Gurion und Vladimir
Jabotinsky glaubten.
Wenn es so gekommen wäre, dann hätte es keine
antisemitischen Morde in Toulouse gegeben, denn dann hätte es in
Toulouse keine Juden mehr gegeben.
Ben Gurion war kaum zu bändigen, den amerikanisch
jüdischen Zionisten zu sagen, was er von ihnen hielt. Er verachtete
sie zu tiefst. Ein Zionist – so glaubte er – hat nichts anderes zu
tun, als in Zion zu sein. Wenn er Benjamin Netanjahu gelauscht
hätte, wie er bei der AIPAC-Konferenz den Tausenden jüdischer
„Führer“ geschmeichelt hat, dann wäre ihm schlecht geworden. Und
man kann es verstehen, weil diese Juden, die klatschten und wie
Verrückte von ihren Sitzen auf und absprangen und Netanjahu
anstachelten, einen verheerenden Krieg gegen den Iran zu beginnen,
in ihre gemütlichen Heime und zu ihren lukrativen Beschäftigungen in
Amerika zurückgingen.
Ihre englisch sprechenden Kinder besuchen Colleges
und träumen von zukünftigen Reichtümern, während ihre Altersgenossen
in Israel zur Armee gehen und sich Sorgen darüber machen, was mit
ihren wehrlosen Familien geschieht, wenn der versprochene Krieg mit
dem Iran Wirklichkeit würde. Dabei soll einem nicht schlecht werden?
ÜBRIGENS PRODUZIERTE die Symbiose amerikanischer
Politiker und zionistischer Lobby in dieser Woche wieder eine
seltsame Kuriosität. Der US-Kongress erließ einstimmig ein Gesetz,
das es Israelis erleichtert, auf immer nach Amerika einzuwandern.
Das einzige, was wir jetzt tun müssen, ist ein kleines Geschäft in
Amerika kaufen – sagen wir mal einen kleinen Delikatessladen in
einer Ecke von Brooklyn, für den halben Preis einer Wohnung in
Jerusalem – um automatisch ein amerikanischer Einwohner zu werden
und schließlich ein Staatsbürger.
Kann man sich eine anti-zionistischere Tat vorstellen
als diesen Plan, um Israel zu entvölkern?
Alles aus Liebe zu Israel und den jüdischen Stimmen.
Die israelischen Medien applaudierten natürlich über
diesen erstaunlichen neuen Beweis amerikanischer Freundschaft für
Israel.
Hier haben wir also einen mörderischen Anti-Semiten
in Toulouse, der die Juden nach Israel treibt und einen feigen
zionistischen US-Kongress, der die Israelis verführt, zurück ins
„Exil“ zu gehen.
ALS ISRAEL gegründet wurde, dachten wir, dies wäre
das Ende der jüdischen Opferrolle und besonders der Mentalität der
jüdischen Opferrolle.
Hier waren wir, Hebräer einer neuen Art, fähig, uns
selbst zu verteidigen mit all den Instrumenten der Macht eines
souveränen Staates.
Heulsusen-Opferrolle gehörte zur verachteten und
verabscheuten Diaspora, zu den zerstreuten und den wehrlosen
jüdischen Gemeinden.
Aber die Opferrolle ist zurückgekommen, als
politischer Allzweck-Trick und als psychische Haltung. Die
iranischen Atombomben, die wirklichen oder eingebildeten, geben ihr
einen großen Auftrieb. Solange Israel sich in einem Angstzustand
befindet, wird die Zweite-Holocaust-Mentalität ihren Griff nicht
lösen.
Von Tag zu Tag wird Israel jüdischer und weniger
israelisch. Wie gesagt worden ist: es ist leichter die Juden aus dem
Ghetto herauszuholen, als das Ghetto aus den Juden. Besonders bei
einem ständigen Krieg.
Am Ende kommen wir also zur selben Schlussfolgerung
wie bei allen anderen Problemen : Frieden ist die Antwort.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs;
vom Verfasser autorisiert
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