Liebe FreundInnen,ich weiß nicht, wo ich anfangen
soll. Ich habe einige Berichte von gestern gelesen und sie hauen
mich einfach um - wenn man gerade dagewesen ist, ist alles soviel
näher und lebendiger dass es schier unerträglich wird. Dabei haben
wir selber nichts wirklich Schlimmes erlebt.
Als wir unter Gesang und Gelächter vorige Woche Oliven ernteten -
auf dem des lustigen jungen Mitarbeiters des Arab Educational
Institutes in Bethlehem, das unser Gastgeber für die Wochen war -
gab es keine Siedler, die uns mit Steinen, Schimpfen, Pöbeleien und
Schlägen zu vertreiben suchten, keine Soldaten oder Polizei, die
unsere Ausweise verlangten, die Siedler aber gewähren ließen - trotz
der Gerichtsverfügung, die die Palästinenser ihnen vorzeigten. Eine
Verfügung des obersten israelischen Gerichts, das ihn das Recht
zusichert, auf ihre Grundstücke zu gehen und ihr Land zu bearbeiten,
und die Soldaten verpflichtet, sie vor den Siedlerangriffen zu
schützen.
Oder soll ich vom vorigen Freitag in Bil'in berichten, wo wir an
der wöchentlichen Demo teilnahmen? Auch wir wurden wir durch
Knallbomben und Tränengas vertrieben und suchten bald wieder Schutz
im Dorf, aber erst jetzt erfahre ich, dass dabei ein 12-jähriger
Junge mit scharfer Munition in den Hals getroffen wurde und weitere
16 Menschen verletzt wurden durch explodierende Tränengaskanister
oder Knallbomben oder von den Schlagstöcken des Militärs. Eine über
80-jährige Frau wurde sogar in ihrem Haus am Rande des Dorfes direkt
getroffen. Vielleicht hab ich an ihrer Mauer gestanden, als ich
meine Zwiebel aus der Tasche holte und mir zusätzlich ein
Taschentuch vor Mund und Nase hielt (so war es einigermaßen
erträglich).
Oder soll ich von dem 2-jährigen Mädchen berichten, das im
Gefängnis geboren wurde und so lange bei ihrer Mutter bleiben
durfte, nun aber von einem fast fremden Vater weggeholt werden muss?
Die 'administrative Haft' der Mutter wurde inzwischen zum vierten
Mal verlängert, ohne Anschuldigung, ohne Prozess. (Siehe Foto im
Anhang).
Oder soll ich erzählen von der jungen Frau, Malak, die auf einer
Matratze sitzt und mit leeren Augen auf ihren Ehering starrt - mehr
als diesen und das in ihr wachsende Kind hat sie nicht mehr von
ihrem Mann, den sie vor wenigen Wochen geheiratet hat und der nun
eine Kugel im Kopf hat - getroffen von Soldaten, die erst seinen auf
dem Dach stehenden Bruder anschossen, dann den zweiten, ihm zu Hilfe
eilenden, schwer verletzten und schließlich den jungen Ehemann
erschossen, als er auf die Straße lief, um ein Auto anzuhalten und
die Brüder zur medizinischen Station zu bringen? Eine junge Frau,
die vermutlich nun wählen kann zwischen einer Ehe mit einem der
Brüder (wie lange werden sie überleben?) oder der Rückkehr in ihrer
Familie (wenn diese sie aufnimmt), um, allein mit ihrem Kind
entgegen der Sitte des Volkes, zum Dorfgespott wird.
Oder - und damit auch genug für heute - ich übersetze einfach ein
Teil eines Berichts einer Studentin der Bir Zeit Universität, die
von ihrem letzten Durchgang durch den Huwarra Checkpoint vor Nablus
erzählt: Ich weiß nicht, wie Leute das jeden Tag machen können. Es
ist so erniedrigend. Ich war vor zwei Tagen mit einer Kollegin zu
Fuß am Huwarra Checkpoint und habe es alles erlebt. Wir verließen
Nablus gegen Mittag auf dem Weg zurück nach Ramallah. Es war nicht
das erste Mal, dass wir durch Huwarra zu Fuß gingen, aber das
schlimmste. Es gab eine lange Schlange Autos die warteten, bis sie
dran waren. Wir gingen direkt zu dem "grauen Unterstellplatz" wo
alle Fußgänger stehen und warten. Es gab viel mehr Leute als sonst,
300 Männer und Frauen aller Altersgruppen. Wir stellten uns hinter
den Frauen an wie immer. Fast eine halbe Stunde ging vorüber und wir
standen immer noch auf demselben Fleck. Der einzige Unterschied war,
dass wir nun in der Mitte der Schlange eingequetscht waren, von
Frauen und Kindern umgeben, links Männer unter 50, rechts Männer
über 50. Es gab keine Grenzen, so wurde jeder gegen jeden geschoben
und eine junge Frau neben mir wunderte sich, dass ich mich laut
entschuldigte, es war mir aber so peinlich und stressig, vor allem
als ich mich nach einiger Zeit neben der Schlange der älteren Männer
rechts fand und mein Arm ungewollt ihr traf. Ich fühlte unserer
beider Unbehangen, wusste aber, dass wir uns nicht bewegen konnten.
Plötzlich sah ich ein Mann in den Vierzigern der auf ein Soldat
auf der Straße zuging. Er hatte in der unter-50 Schlange gestanden
und durch die ganze Prozedur des Drängens und Schiebens bis zum
eisernen Tor gegangen war. Er dachte, die Altersgrenze sei 45, da
die Soldaten an manchen Tagen die Altersgrenze senken, und stand in
der falschen Schlange. Der Mann konnte das nicht akzeptieren und
ertrug es nicht, die ganze Prozedur nochmal durch zu machen. Er
versuchte den Soldat zu überreden, ihn durchzulassen, dieser
weigerte sich aber und fing an laut zu schreien mit seinem Gesicht
wenige Zentimeter vor dem des anderen. Er sah mir aus wie ein Stier,
der angreifen will. Ich hatte Angst um sein Zustand als er da
hilflos und blaß stand. Er hatte keine Wahl als zurück zu gehen.
Kurz bevor ich von den Körpern um mich herum ganz fest gehalten
wurde, als ich noch die Hände nach oben und unten bewegen konnte,
wurde eine junge Frau in meinen Armen ohnmächtig. Ich hörte einen
Mann sagen, "gib ihr Wasser, lass sie trinken", ohne das jemand
reagierte. Mir wurde bewusst, dass Ramadan sei. Ich holte ungerne
die Flasche heraus, die ich im Beutel für mich hatte, wusste aber,
was ich tun musste. Ihre Freundin goss ihr etwas Wasser übers
Gesicht um sie abzukühlen, aber obwohl sie ihr sagte, sie solle
trinken, als sie wach wurde, weigerte sie sich, ihr Fasten zu
brechen. Nach wenigen Sekunden verschwand sie schwindlig wieder in
der Menschenmasse.
Wir waren gedrängt wie die Sardinen. Nach der ersten halben
Stunde veränderte sich das Gemüt der Menschen und sie wurden
aggressiv, um irgendwie rauszukommen. Man verliert jegliches Gefühl
für "den anderen" und denkt nur an sich selbst und will durch. Ich
musste das auch tun um zu verhindern dass ich gegen eine Eisenstange
gedrückt wurde die mir starke Schmerzen im Rücken und den Nieren
verursachte. Ein 15-jähriger Junge schob eine ältere Frau schamlos
und schrie ihr ins Gesicht, Säuglinge von wenigen Monaten schrien
endlos weil sie keine Luft bekamen, Mütter schreien ihre Kinder an
und schlagen sie um ihre Schreie zu stoppen, die aber nicht still
sein können. Ich beneidetet sie sogar, dass sie weinen konnten.
Männer brüllten die Frauen an, sie sollten in ihrer Schlange
bleiben. Welche Schlange?
Ein junger Mann hinter mir, besser "an mich geklebt" schrie die
Frauen an (auch mich) "warum geht ihr auch nach Nablus?" als hätten
Frauen in Nablus nichts zu suche??? Ich überlegte, warum ich da war.
Wurde "Training" ihm als ein guter Grund erscheinen? Ich glaube
nicht, dass er verstanden hätte. An diesem Ort denkt man nur an die
grundlegenden Dinge des Lebens. ..Krankenhaus vielleicht, vielleicht
auch Schule oder Universität, ich bin aber sicher dass jeder einen
guten Grund hat.
Keiner würde freiwillig durch den Huwarra Checkpoint gehen. Ich
kann ihn verstehen, aber es klang beschuldigend. An einem gewissen
punkt vergessen die Leute wir uns das an tut und wir sinken dazu
herab uns gegenseitig zu beschuldigen, dass wir zuviele Taschen
haben, zu viele Kinder, zuviele Worte reden, uns schieben weil wir
von hinten geschoben werden! Das ist das Ziel der Israelis. Es ist
ein schreckliches Erlebnis. So verletzend und so traurig machend.
Anka